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Vorratsdatenspeicherung: Eine zweifache Farce
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt will Rot-Grün die Vorratsdatenspeicherung einführen. Mit evidenzbasierter Sicherheitspolitik hat das nichts zu tun. Die Bundesregierung erfüllt vielmehr die Wünsche des Sicherheitsapparates und lenkt vom Versagen der Behörden ab. Ein Kommentar.
Geschichte ereignet sich immer zweimal – „das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce“. Von Karl Marx’ Bonmot hält Rot-Grün offenbar wenig: Sie vollzieht innerhalb weniger Monate das Kunststück einer zweifachen Farce. Und darin liegt eine erschütternde Tragik, denn die Regierung verschleiert so das Versagen der Sicherheitsbehörden.
In Reaktion auf den Weihnachtsmarktanschlag in Magdeburg wollen SPD und Grüne offenbar den Zombie Vorratsdatenspeicherung wiederauferstehen lassen. Die beiden Parteien sind, wir erinnern uns, der Rest der selbsternannten Fortschrittskoalition.
Nicht nur die Ampel liegt in Scherben, sondern auch die von ihr vertretenen Werte. In ihrem Koalitionsvertrag lehnten SPD, Grüne und FDP noch Überwachung ab. Zugleich hielten sie die Grund-, Freiheits- und Menschenrechte hoch. Das ist nun endgültig passé.
Keine evidenzbasierte Sicherheitspolitik
Mitte Oktober drückte die Ampel das sogenannte Sicherheitspaket durch den Bundestag, das nur in Teilen den Bundesrat passierte. Die weitgehenden Maßnahmen rechtfertigte die damalige Regierung mit der tödlichen Messerattacke in Solingen wenige Wochen zuvor. Damals kochte die Stimmung – angeheizt von Rechtsaußen – rund um die drei Landtagswahlen hoch. Und die Bundesregierung gab sich handlungsfähig.
Das Sicherheitspaket hat mit evidenzbasierter, effektiver und sinnvoller Sicherheitspolitik jedoch nichts zu tun. Die Ampel stimmte für ein Gesetzespaket, das Asylsuchende pauschal für Terrorismus in Haftung nimmt und das biometrische Fahndungsmethoden einführt, für die die Fotos von Milliarden Menschen in einer gewaltigen Datenbank gespeichert werden müssen. Und sie hat dafür votiert, dass die Polizei in Zukunft vielerorts anlasslose Kontrollen durchführen kann und damit einen Generalverdacht gegen alle unbescholtenen Menschen ausgesprochen.
Keines dieser Vorhaben hätte die Tat in Solingen wohl verhindern können. Sie lösen keines der genannten Probleme, sie schaffen nur neue. Insbesondere für Menschen, deren Grund- und Freiheitsrechte ohnehin schon eingeschränkt sind.
Dass die Maßnahmen eine „lumpige Farce“ sind, haben der Ampel auch zahlreiche Fachleute bescheinigt – Fachleute, die die Regierungsfraktionen selbst in eine Anhörung des Deutschen Bundestages eingeladen hat. Es ist zu hoffen, dass das Sicherheitspaket bald vor dem Bundesverfassungsgericht landet.
Zombie Vorratsdatenspeicherung: Die Farce wiederholt sich
Wenige Wochen vor der Bundestagswahl ereignet sich die Geschichte erneut. Nach der Amokfahrt auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember zieht Rot-Grün jetzt gegen alle Evidenz den Zombie Vorratsdatenspeicherung aus der Schublade.
Doch die Vorratsdatenspeicherung hätte die Tat nicht verhindert: Der mutmaßliche Täter war den Behörden bekannt, sein Name stand unübersehbar an seinem X-Account, es gab Warnungen und Verurteilungen, der Mann war erreichbar und greifbar – niemand hätte seine IP-Adresse benötigt müssen, um ihn zu finden.
Vielen Fachleuten gilt die anlasslose Massenüberwachung als wirkungsloses Mittel gegen Kriminalität und Terrorismus. Das gilt erst recht für die Prävention von Straftaten. Auch juristisch ist sie hochumstritten: Das Bundesverfassungsgericht erklärte sie erstmals im Jahr 2010 für verfassungswidrig. Und auch hohe europäische Gerichte haben der allgemeinen und wahllosen Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten enge Grenzen gesetzt.
Mit einer Sicherheitspolitik, die nachgewiesenermaßen für den Anlass die gewünschte Wirkung erzielt, haben die Pläne von Rot-Grün auch dieses Mal nichts zu tun. Das räumt Bundesinnenministerin Nancy Faeser sogar ein.
Doch in wenigen Wochen ist Bundestagswahl. Und daher glaubt Rot-Grün symbolisch nach dem Motto „Wir tun was“ agieren zu müssen. Zugleich instrumentalisiert Rot-Grün den Anschlag von Magdeburg eiskalt, um einen langjährigen Wunsch der Sicherheitsbehörden zu erfüllen.
Nebelkerze für Behördenversagen
Obendrein wirkt die Vorratsdatenspeicherung als Nebelkerze und lenkt so von entscheidenden Fragen ab.
Denn der mutmaßliche Täter Taleb A. war den Sicherheitsbehörden offenbar seit Jahren bekannt. Selbst der Bundesnachrichtendienst soll von ihm Kenntnis gehabt haben. Mehrfach hat der Verdächtige im Netz angekündigt, an deutschen Behörden und Politiker:innen Rache nehmen zu wollen. Eine geplante Gefährderansprache der Polizei Magdeburg unterblieb, die Gründe dafür sind unklar. Der Veranstalter des Weihnachtsmarktes hatte die Polizei sogar darauf hingewiesen, dass deren Fahrzeuge nicht schützend standen.
All das sieht nach einer gewaltigen Pannenserie quer durch den Sicherheitsapparat aus. Wie konnte es zu der grausamen Tat in Magdeburg kommen, bei der fünf Menschen starben und 200 verletzt wurden? Was genau ist bei den Sicherheitsbehörden schiefgelaufen? Reichte das Sicherheitskonzept des Magdeburger Weihnachtsmarktes aus?
Statt über kopflosem „Law and Order“-Aktionismus und den Ausbau des Überwachungsstaats zu diskutieren, brauchen wir Antworten auf diese Fragen. Und es wäre mehr als tragisch, wenn Rot-Grün das Versagen der Sicherheitsbehörden dafür nutzt, um anlasslose Massenüberwachung einzuführen.
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Author: Daniel Leisegang