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Umfrage zur Chatkontrolle: Wie Kinderschützer*innen Verwirrung stiften

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Auf den letzten Metern der Chatkontrolle-Verhandlungen im EU-Rat mobilisieren Kinderschützer*innen mit einer Umfrage. Demnach soll eine Mehrheit die Überwachung privater Nachrichten befürworten. Das Ergebnis ist zweifelhaft, denn die Fragen sind sehr manipulativ formuliert.
Die Umfrage der Kinderschützer*innen führt die Befragten in die Irre. – Public Domain Midjourney („an impossible room inside a human brain surreal pencil drawing by mc escher“)Die Chatkontrolle könnte bald eine wichtige Hürde im EU-Gesetzgebungsprozess nehmen. Kurz vor einer geplanten Abstimmung im Rat wird nicht nur die Kritik an dem Vorhaben noch einmal lauter. Auch die Befürworter*innen der Chatkontrolle lobbyieren derzeit massiv. Dabei scheuen sie nicht davor zurück, grobe Foulspiele zu begehen.
Das zeigt aktuell nicht nur das Mikrotargeting der EU-Kommissarin Ylva Johannson, sondern auch eine aktuelle Umfrage der Kinderschutzorganisationen ECPAT International und NSPCC. Aus Sicht beider Organisationen rechtfertigen die am vergangenen Freitag veröffentlichten Ergebnisse, dass es „dringend“ einer Gesetzgebung bedarf, „um Kinder vor sexueller Ausbeutung zu schützen“.
Demnach würden sich mehr als 70 Prozent der Befragten dafür aussprechen, dass Anbieter sogenannten „Kindesmissbrauch“ aufdecken, melden und entfernen – auch wenn dafür die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung umgangen werden muss. Die Befragung von mehr als 25.000 Personen in 15 EU-Staaten und dem Vereinigten Königreich führte das Meinungsforschungsunternehmen Savanta durch.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Fragebogen hochgradig manipulative Fragen enthält – und damit keine seriöse Grundlage für die Diskussion um die Chatkontrolle bietet.
Mit Zahlen schocken, die eigentlich etwas anderes sagen
Das wird gleich zu Beginn deutlich, wenn die Umfrage mit einer extrem hohen Zahl aufmacht: „Im Jahr 2022 gab es mehr als 32 Millionen Meldungen von Anbietern von Online-Diensten (z. B. Social-Media-Plattformen, Online-Gaming-Plattformen, Messenger-Dienste, Online-Speicherplattformen) über mutmaßliche sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet.“
Die Umfrage macht nicht transparent, woher diese Zahl stammt. Augenscheinlich handelt es sich dabei um die Angaben der Meldestelle CyberTipline des US-amerikanischen National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC) – das bestätigt uns ein ECPAT-International-Sprecher auf Anfrage. Das NCMEC erhält Verdachtsmeldungen vor allem von großen Online-Plattformen, rund zwei Drittel kommen von Facebook.
Bereits in der Vergangenheit haben wir über den oftmals irreführenden Umgang mit den Zahlen des NCMEC berichtet. Ohne Einordnung vermitteln die Zahlen ein stark verzerrtes Bild. Die gemeldeten Fälle sind zunächst nur Verdachtsmeldungen. Das heißt, bei weiterer Überprüfung stellt sich oftmals heraus, dass ein verdächtiges Bild doch unbedenklich ist. So hat das NCMEC nach Prüfung der Abermillionen Verdachtsfälle im Jahr 2022 rund 1,1 Millionen neue Bilder und Videos zu seiner Datenbank bekannter Gewaltdarstellungen hinzugefügt. Auch diese Zahl ist äußerst hoch – zugleich ist sie jedoch deutlich niedriger als 32 Millionen.
Zwar schreibt die Umfrage ausdrücklich von 32 Millionen „Meldungen“: Ohne weiteren Kontext legt die hohe Zahl jedoch nahe, dass es auch eine ähnliche hohe Fallzahl von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige gebe. Dafür gibt es aber keine Belege. Die Umfrage stellt das Problem damit als erheblich größer dar, als es die Zahlen bei näherer Betrachtung hergeben. Wir haben ECPAT per Presseanfrage darauf hingewiesen. Ein Sprecher schrieb uns: Die Zahl 32 Millionen sei „ein Indikator für das Ausmaß des Problems“.
Die Erzählung von „geschulten“ Tools
Die Fragen der Umfrage sind an einigen Stellen manipulativ formuliert. Besonders zeigt sich das im Infoblock zu Frage 4. Er handelt von „automatisierten technologischen Tools“, die Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige entdecken sollen. Dort heißt es:
Diese Tools sind geschult und speziell darauf ausgerichtet, Material über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Inhalte zur Ausbeutung von Kindern zu erkennen, einige Menschen argumentieren jedoch, dass sie die Privatsphäre der Nutzer(innen) beeinträchtigen, da ihre persönlichen Aktivitäten von diesen Tools gescannt werden.
Die Formulierung „geschult und speziell darauf ausgerichtet“ suggeriert, dass die automatisierten Systeme eine hohe Verlässlichkeit aufweisen. An einer anderen Stelle schreiben die Autor*innen auch von „bewährter Technologie“.
Das ist irreführend. Unter anderem Microsoft und Facebook führen bereits automatische Scans durch. Wie effektiv die dafür eingesetzte Technologie jedoch ist, muss stark bezweifelt werden. „Erkennungstechnologien sind zutiefst fehlerhaft und anfällig für Angriffe“, warnten etwa mehr als 300 Wissenschaftler*innen Ende Juli. Die Forschenden sprachen sich in einem Offenen Brief gegen die Chatkontrolle aus. So erfolgten die Scans meist auf Basis sogenannter Hash-Werte, eine Art individueller Fingerabdruck, der aus bekannten Missbrauchsdarstellungen berechnet wird. Würden aber etwa digitale Bilder nur minimal manipuliert, verändert sich dadurch auch ihr Hash-Wert. So fallen sie dann durch das Erkennungsraster, so die Wissenschaftler*innen.
Dessen ungeachtet beschreibt die Umfrage die Technologien pauschal als zuverlässig. Der Sprecher von ECPAT International schreibt auf unsere kritische Rückfrage hin, die Erkennungstechnologien würden seit über zehn Jahren als „wichtige Werkzeuge“ im Kampf gegen Kindesmissbrauch eingesetzt werden.
Manipulative Erklärung für Ende-zu-Ende-Verschlüsselung
Auch beim Thema Ende-zu-Ende-Verschlüsselung führt die Umfrage in die Irre. Offenbar wissen viele Menschen nicht einmal, was Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bedeutet. Das geht zumindest aus der Umfrage selbst hervor. Bei Frage 9 gaben gerade einmal 8 Prozent der Befragten an, darlegen zu können, was eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist. Immerhin 22 Prozent können dies laut Umfrage zumindest teilweise erklären. 36 Prozent – also mehr als ein Drittel der Befragten– kann deren Funktion nach eigener Aussage nicht erklären. 27 Prozent hätten sogar noch nie von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung gehört.
Die Autor*innen der Umfrage liefern daraufhin selbst eine Erklärung für Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Diese Erklärung beinhaltet aber bereits eine starke Wertung. Zunächst heißt es in einem Infotext, dass bei Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nur Sender:in und Empfänger:in eine Nachricht lesen können. Dies erhöhe den Schutz der Daten und die Sicherheit. So weit, so richtig. In einem zweiten Absatz heißt es dann jedoch wörtlich:
Wenn die Anbieter von Online-Diensten keine zusätzlichen Schutzmaßnahmen ergreifen (z. B. Meldefunktionen für Nutzer(innen), Entwicklung innovativer Erkennungstechnologien), ist es unmöglich festzustellen, ob die Plattform für den sexuellen Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung von Kindern genutzt wird (z. B. für die Verbreitung von Material über den sexuellen Missbrauch und/oder für Grooming von Kindern). In diesem Sinne beeinträchtigt die End-to-End-Verschlüsselung die Privatsphäre und die Sicherheit aller Nutzer(innen), insbesondere von Kindern, indem sie sie vor kriminellen Handlungen ungeschützt lässt und den Strafverfolgungsbehörden den Zugang zu Beweismaterial zur Untersuchung dieser Straftaten unmöglich macht.“ (Hervorhebungen des Autors)
Rätselhafte Behauptungen über Privatsphäre
Allein dieser Absatz enthält mindestens zwei problematische Behauptungen. Die Autor*innen schreiben zunächst, dass Ende-zu-Ende-Verschlüsselung die Privatsphäre von Nutzer*innen „beeinträchtigt“. Das ist paradox: Gerade die Vertraulichkeit von Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation schützt die Privatsphäre – und damit auch Grundrechte wie etwa das Fernmeldegeheimnis. Wie nur soll Ende-zu-Ende-Verschlüsselung also ausgerechnet das Gegenteil bewirken und Privatsphäre beeinträchtigen? Diese Erklärung bleibt die Umfrage ihren Teilnehmer*innen schuldig.
Erst auf unsere Nachfrage liefert ein Sprecher mehr Kontext. Demnach verletzte es die Privatsphäre von Kindern, wenn Menschen ihre Missbrauchsdarstellungen teilen. Das ist zwar soweit schlüssig – hat aber allenfalls mittelbar etwas mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu tun. Dahinter steckt wohl die Annahme, dass überwachte Chats ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen eindämmen könnten, weil Täter*innen in diesem Fall fürchten, entlarvt zu werden. Eine solche Erklärung fehlt allerdings an dieser Stelle der Umfrage.
Stattdessen heißt es in der Umfrage, dass Ende-zu-Ende-Verschlüsselung „den Strafverfolgungsbehörden den Zugang zu Beweismaterial zur Untersuchung dieser Straftaten unmöglich macht“. Diese Aussage ist nicht richtig: Der Zugang zu Beweismaterial ist auch mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung möglich. Behörden können etwa die Geräte von Verdächtigen gezielt beschlagnahmen und durchsuchen. Auch die Account- und Metadaten von Ende-zu-Ende-verschlüsselten Chats können Ermittlungsbehörden Hinweise liefern.
Bei den Teilnehmer*innen der Umfrage dürfte sich allerdings der Eindruck aufdrängen: Wer Minderjährige vor sexualisierter Gewalt im Netz schützen will, müsse auf Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verzichten. Das ist jedoch grob irreführend. In Wahrheit hat auch Ende-zu-Ende-Verschlüsselung eine elementare Schutzfunktion für Minderjährige. Sie verhindert nämlich, dass ihre einvernehmlich verschickten, intimen Bilder in fremde Hände gelangen können – seien es kriminelle Hacker*innen oder einfach nur Menschen mit Zugang zu den Servern eines Messenger-Dienstes.
Angesichts all dessen muss bezweifelt werden, dass die von der Umfrage erfassten hohen Zustimmungswerte für die Chatkontrolle Substanz haben. Vielmehr legt der Fragebogen nahe: Die Autor*innen der Umfrage sind offenbar nicht an einem sachlichen Beitrag zur Debatte interessiert. Damit schlagen sie in die gleiche Kerbe wie die EU-Kommission, die – je näher die Entscheidung über die Chatkontrolle rückt – auf falsche Behauptungen, Blockadehaltung und unlautere Mittel setzt.

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Author: Leonhard Pitz

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