Dieser Text erschien zuerst bei Belltower News. Zwischenüberschriften und Einleitung zur besseren Lesbarkeit eingefügt von Volksverpetzer.
Johannes Kiess und Gideon Wetzel analysieren im neuen Digitalreport des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI) den Wahlkampf der Rechtsextremen auf Telegram und diskutieren, wie die extreme rechte Telegram-Szene mobilisiert und welche Rolle die Freie Sachsen spielen. Eine Zweitveröffentlichung im Rahmen unseres Projektes Demokratischer Herbst.
So sah der Kommunalwahlkampf 2024 in der rechtsextremen Telegram-Szene aus
Im Schwerpunkt des vorliegenden Digital Reports blicken wir auf die Kommunalwahlen und darauf, wie diese in der extrem rechten Telegram-Szene in Sachsen thematisiert wurden. Zentraler Akteur sind hier die Freien Sachsen: Einerseits haben sie auf Telegram weiterhin den größten Einfluss, ihre Nachrichten werden am breitesten rezipiert und sie präsentieren sich auch bei den Wahlen als Netzwerk. Andererseits sind sie neben der AfD der einzige Akteur des extrem rechten Spektrums, der in nennenswertem Umfang zu den Wahlen angetreten ist. Die Heimat (ehemals NPD) und die DSU reichten nur eine Handvoll, der III. Weg gar keine Kandidaturen mehr ein.
Darüber hinaus traten einige Personen aus dem Milieu in lokalen Wählervereinigungen an, auf die wir an dieser Stelle nicht näher eingehen können. Neben den genannten Akteuren deckt unsere Datenbasis eine Vielzahl lokaler und regionaler Gruppen und Kanäle ab, die zwar eindeutig extrem rechte, antidemokratische und verschwörungsideologische Narrative und Positionen teilen, über diesen anti-systemischen Grundtenor hinaus aber nicht (partei-)politisch agieren.
Dazu zählen unter anderem das QAnon- und Reichsbürger-Spektrum sowie die erst während der Covid-19-Pandemie entstandenen Gruppen von Eltern stehen auf und den Freiheitsboten. Zwei Fragen sind für die folgende Analyse leitend gewesen: Wie mobilisiert eine neonazistische Partei für Wahlen in einer Demokratie, die sie doch abschaffen will? Und wie hat die Szene auf Telegram, die neben den Freien Sachsen zahlreiche lokale Gruppen auch aus dem eher verschwörungsideologischen als neonazistischen Spektrum umfasst, insgesamt den Wahlkampf kommentiert und mitgetragen?
Demokratie bekämpfen durch Wahlen
Die Freien Sachsen kritisierten von Beginn an nicht nur die gegenwärtige Politik, sondern wollen das gesamte politische System – namentlich die Demokratie – abschaffen. Parlamentarismus bzw. die Demokratie als Idee werden offen und klar abgelehnt. So äußerte sich beispielsweise Michael Brück, ehemaliger Dortmunder Die Rechte- und heutiger Freie Sachsen-Kader, in einem Gespräch auf der Plattform YouTube: „Also ich persönlich habe noch nie an die Demokratie, wie sie hier in dem Staat gepredigt wird, geglaubt. […] Man sieht ja offenkundig, dass wir keine Mitbestimmung haben.“
Ob der selbst geschürten Demokratieverachtung und des Misstrauens in demokratische Prozesse in den angesprochenen Milieus (etwa der Reichsbürger) war der Vorsitzende Martin Kohlmann im März 2023 bemüht, dennoch von der Wahlteilnahme zu überzeugen: Gerade Kommunalwahlen seien legitim, denn „Stadträte und Kreistage gab es auch im Kaiserreich schon“. Auch seien Wahlen auf der kommunalen Ebene schwer zu fälschen, und selbst bei der Briefwahl könne man den Auszählungen beiwohnen. Wer die Freien Sachsen wähle, würde auch nicht zur Legitimierung des Systems durch Wahlteilnahme beitragen. Schließlich sei jeder Sitz für die Freien Sachsen einer weniger für die „Altparteien“.
Unterwanderung der Demokratie als Ziel der Freien Sachsen
Warum tritt eine solche neonazistische Partei bei Wahlen an? Seit Jahren versucht die extreme Rechte, die parlamentarischen Abläufe z.B. mit Anfragen und Anträgen zu stören, demokratisch Engagierte unter Druck zu setzen und sich in der Fläche zu etablieren. Die Verankerung im Lokalen gilt als strategische Voraussetzung für langfristige und anhaltende Erfolge im Kampf gegen die liberale Demokratie. Kiess und Nattke nennen in ihrem Buch Widerstand über alles: Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren konkret drei Gründe, die von den Freien Sachsen an verschiedenen Stellen selbst vorgetragen werden: Nach Erringung kommunalpolitischer Mandate sollen in den Kommunen parlamentarische Abläufe gestört, frühzeitig an Informationen zu mobilisierungsfähigen Ereignissen (vorzugsweise die Einrichtung von Geflüchtetenunterkünften) gelangt und kommunalpolitisches Know-how aufgebaut werden. Denn letzteres, so Kohlmann, sei nötig, wenn nach dem Umsturz jene Menschen nicht mehr da sein werden, die bisher kommunale Aufgaben wie Straßenbau usw. übernehmen.
Diese unverhohlene Drohung gilt offenbar allen, die nicht zur Bewegung gezählt werden. Schließlich hat Michael Brück auch für jene ein Erklärungsangebot, die Konkurrenz – die die Kader der Freien Sachsen offenbar als Hindernis für erfolgreiche Mobilisierungen erkannt haben – im extrem rechten Lager fürchten. Seiner Argumentation nach könnten die Freien Sachsen zusätzliche Stimmen mobilisieren, die die AfD nicht mehr erreiche. Selbst wenn die Freien Sachsen der AfD einige Prozente abnähme, sei das extrem rechte Lager mit einem Antritt der Freien Sachsen also insgesamt gestärkt.
Mobilisierung für die extreme Rechte
Mit unserem Topic-Modeling-Ansatz haben wir alle Nachrichten der Freien Sachsen im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 10. Juni 2024 thematisch sortiert, um aufzuzeigen, welche Themen vor der Kommunalwahl (die Europawahl spielte tatsächlich kaum eine Rolle) in der Agitation dominierten (Abb. 8). Zusammengenommen bilden die beiden Topics „Unterschriften Kommunalwahlen“ und „Wahlen“ den inhaltlichen Schwerpunkt (insgesamt etwa neun Prozent der Nachrichten, bei den Kanälen der Freien Sachsen 12 Prozent). Es wird in diesen Nachrichten auch tatsächlich fast ausschließlich für die Wahlen selbst bzw. für die Abgabe von Unterschriften geworben. Nur am Rande und nur mit den immergleichen „Widerstands“-Formeln werden auch Inhalte des Wahlkampfs – insbesondere Kampfansagen gegen politische Gegner und den „politische[n] Filz“ in Kommunalverwaltungen – angesprochen.
Vorrangiges Ziel war es, durch den Antritt bei den Kreisratswahlen und in den kreisfreien Städten einen flächendeckenden Wahlantritt zu suggerieren. Auf Gemeindeebene konnte dieser Anspruch bei weitem nicht eingelöst werden: Nur in 10 Prozent der Kommunen konnten die Freien Sachsen Listen aufstellen. Umso mehr investierten die Freien Sachsen in die Kandidaturen dort, wo sie möglich erschienen. Eindringlich wurde zum Beispiel für Leipzig appelliert: „Geht bitte heute oder morgen, spätestens aber am Dienstag (2. April) zum ‚Amt für Statistik und Wahlen‘ (Thomasiusstraße 1, Öffnungszeiten Di, Mi 10–16 Uhr, Do 10–18 Uhr) um für unseren Antritt zu unterschreiben. Sagt Mitstreitern Bescheid. Dann werden wir in ganz Leipzig wählbar sein und damit beginnen, die Antifa-Szene politisch mit dem eisernen Besen auszukehren!“
übertriebene rhetorik und selbsterhöhung
In der Neonazi-Szene gilt die „Frontstadt“ Leipzig schon seit den 1990er Jahren als „Bastion“, die es einzunehmen gilt. An anderer Stelle versuchten die Freien Sachsen „Sachsenweite Schikanen gegen Unterstützungsunterschriftensammlung“ zu skandalisieren – vermutlich auch, um für drohende Misserfolge ein passendes Narrativ vorbereitet zu haben. Die nach View-Zahlen wichtigste Nachricht verkündete aber dann einen Erfolg: „Mit rund 10.000 Unterstützungsunterschriften: Freie Sachsen schaffen erstmalig flächendeckenden Antritt einer neuen Bewegung zur Kommunalwahl in Sachsen!“
Angesichts der fehlenden Kandidaturen in der überwiegenden Zahl der Gemeinden ist dies einerseits eine deutliche Übertreibung, die sich aber einfügt in die Strategie der Freien Sachsen bei Demonstrationen (bei weitem nicht alle wurden von ihnen organisiert und ihre Größe wird oft übertrieben) und online (hier war die Rhetorik immer auf Selbstüberhöhung als Mittel der Mobilisierung ausgelegt). Schon während der Listenaufstellung behaupteten die Freien Sachsen: Das „Establishment zittert vor unserem Antritt“. Diese leere Behauptung sollte wohl vor allem den eigenen Anhänger*innen Bedeutsamkeit suggerieren. Das „flächendeckend“ bezog sich auf den Antritt bei allen Kreistagswahlen womit der auf kommunaler Ebene sehr begrenzte Erfolg doch noch als kämpferische Leistung dargestellt werden sollte. Der Antritt in Leipzig sei „in letzter Minute“ gelungen, man musste „Unterschriften auf den Rathäusern“ sammeln, konnte „Schwung“ zeigen und will diesen nutzen, um „erst richtig durch[zustarten]“.
thematische schwerpunkte der freien sachsen auf Telegram
Im Berichtszeitraum haben die Freien Sachsen auch weiter andere, überwiegend aus unseren bisherigen Berichten bereits bekannte Themen bespielt (siehe Abb. 8). Zu Jahresbeginn waren dies vor allem die sogenannten Bauernproteste sowie als etablierte Themen der Krieg gegen die Ukraine und die Covid-19-Pandemie. Migration und Klimawandel bilden Dauerbrennerthemen, auch wenn sie eher mitlaufen und an keiner Stelle dominieren.
Ähnliches gilt derzeit auch für den Nahostkonflikt. Ein eigenes Thema bildet außerdem die Agitation speziell gegen den sächsischen Ministerpräsidenten und die CDU. Schließlich ist die Protestmobilisierung weiter als eigenständiges Thema präsent, das Parallelen zu den Wahlthemen aufweist. In beiden thematischen Zusammenhängen geht es den Freien Sachsen darum, die Wirkmächtigkeit der eigenen Mobilisierung zu überhöhen und ihren Anhänger*innen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit durch – eigentlich banale – „Widerstands“-Handlungen zu vermitteln.
Rechtsextreme Freie Sachsen setzen auch für andere Telegram-Gruppen die Themen
Die Nachrichten desselben Zeitraums im Rest der untersuchten Gruppen haben wir ebenfalls mittels Topic Modeling analysiert (Abb. 9). Hier lassen sich nur 3 Prozent der Nachrichten dem Oberthema Wahlen zuordnen, wobei es sich ausnahmslos um Weiterleitungen von Freie Sachsen-Inhalten handelt. Das heißt jedoch auch, dass diese Gruppen und Kanäle eine gewisse Verstärkerfunktion für die Freien Sachsen wahrnehmen. In absoluten Zahlen werden auf die Kommunalwahl bezogenen Nachrichten durchaus häufig in anderen Gruppen weitergeleitet.
Die Freien Sachsen setzen damit das Thema erfolgreich als Angebot, das jenseits ihrer eigenen Gruppen auch nur als Weiterleitungen vorkommt und nicht „von unten“ durch Gruppenmitglieder diskutiert wird. Zum anderen werden die Wahlen sonst nicht – oder nur implizit und für den Algorithmus nicht in ausreichend dominanter Weise – weiter thematisiert. Sehr präsent – und in Relation deutlich wichtiger als bei den Freien Sachsen – bleibt das Thema Covid-19, gefolgt vom Krieg gegen die Ukraine und zu Jahresbeginn den Bauernprotesten, also Themen, die durchaus auch von den Freien Sachsen bespielt werden.
Fazit: Telegram zur Mobilisierung Rechtsextremer genutzt
Die Freien Sachsen haben einerseits die Plattform Telegram genutzt, um für ihren Antritt zu den Kommunalwahlen auf der Kreis- und – deutlich weniger erfolgreich – auf der Gemeindeebene zu werben. Andererseits haben sie die Kommunalwahlen aber auch als Thema zur Mobilisierung für sich genutzt. Dazu passt, dass in den am weitesten verbreiteten Nachrichten über das allgegenwärtige, aber oft diffuse „Widerstands“-Narrativ hinaus kaum eine inhaltliche Bestimmung des Wahlkampfs erkenntlich ist. Dieser Eindruck relativiert sich zwar sowohl durch die weiterhin gegebene thematische Vielfalt auf den Telegram-Kanälen – Covid-19, Ukraine, Migration, Bauernproteste, kaum ein gesellschaftspolitisches Thema wird nicht ausgiebig und in radikalen Tönen kommentiert – und beim Blick auf die Wahlplakate, die ebenfalls verschiedene Themen ansprechen.
Dennoch ist festzuhalten, dass die Freien Sachsen sich als Bewegungspartei vor allem darauf konzentrieren, die Mobilisierung auf der Straße (auch über digitale Verstärker wie Telegram) nicht abreißen zu lassen. Letztlich blieb der Erfolg in der Breite für die Freien Sachsen aus, auch wenn sie in ihren Hotspot-Regionen mitunter zweistellige Prozentwerte einfahren konnten. Insgesamt reichte es bei den Gemeinderatswahlen nur für etwas mehr als 3 Prozent der Stimmen. Aller Voraussicht nach werden sie bei den Landtagswahlen, bei denen sie nach langer Ungewissheit und nach jetzigem Stand nun doch antreten werden, die 5-Prozent-Hürde wohl nicht überschreiten.
Der Antritt zur Landtagswahl überrascht auch deshalb, weil die Konkurrenz durch die AfD hier ein größeres Problem werden wird. Die Freien Sachsen kritisieren die AfD einerseits als zu sehr auf (parlamentarische) Ämter fixiert, strecken aber andererseits die Hand für künftige Kooperationen aus. In der ihnen charakteristischen Selbstüberhöhung sehen sich als Koalitionspartner der AfD, der die durch diese nicht mehr erreichbaren Reichsbürger- und Neonazi-Milieus anspricht und damit zusätzliche Prozente für eine extrem rechte Koalition einbringen kann.
Artikelbild: canva.com / eigener Screenshot telegram.org