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Startchancen-Programm: Schulen in der Warteschleife

Dieser Artikel stammt von CORRECTIV.Faktencheck / Zur Quelle wechseln

Jeden Donnerstag steht Matthias Römer als Mathelehrer vor seiner Klasse. Einige Kinder im Klassenraum streben das Abitur an, andere werden womöglich früher die Schule verlassen. Insgesamt bereiten sich 400 Schülerinnen und Schüler auf ihre Abschlüsse vor, an der Herbert-Binkert-Gemeinschaftsschule in Saarbrücken. Römer lehrt nicht nur. Er leitet die Schule. Der Unterricht ist nur ein kleiner Teil seiner täglichen Aufgaben.

Etwa 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler stammen aus Familien, die Bürgergeld beziehen. Viele der Kinder sprechen kaum Deutsch, haben Gewalt erfahren und sind traumatisiert, sagt Römer. Gespräche mit dem Jugendamt, Termine beim Familiengericht und tausende unentschuldigte Fehltage im Jahr gehören für Römer und sein Team zum Alltag: „Hier geht quasi den ganzen Tag die Tür auf mit Problemen, die gelöst werden müssen.“

Ab Januar verstärkt eine Schulsozialarbeiterin das Kollegium. Sie soll sich darum kümmern, dass die Schülerinnen und Schüler seltener unentschuldigt fehlen und die Gewalt im Schulalltag abnimmt. Doch was kann eine einzige zusätzliche Stelle bewirken?

Das neue Personal wird über das Startchancen-Programm finanziert. Seit August gehört die Gemeinschaftsschule zu den 2.125 Schulen in Deutschland, die daran teilnehmen.

Das Förderprogramm, viel zitiert als „bildungspolitische Trendwende“, soll in den nächsten zehn Jahren Kinder und Jugendliche fördern, besonders aus armen Familien und mit internationalen Biografien. Zuletzt zeigten Recherchen von CORRECTIV.Lokal, dass weniger Geld in Schulen fließt, als es scheint. Besonders Kinder in ärmeren Kommunen profitieren weniger von der Förderung.

Neue Recherchen von CORRECTIV.Lokal decken weitere Probleme auf. In mehreren Bundesländern können Schulen immer noch nicht mit konkreten Ausgaben planen. Diejenigen, die ihre Budgets kennen, klagen weiterhin über zu wenig Personal.

Die gute Nachricht: Das Programm ist beschlossen. Weder der Regierungsbruch über den Haushalt noch die bevorstehenden Neuwahlen ändern daran etwas. Jede der Startchancen-Schulen soll vom Bund und dem jeweiligen Bundesland für unterschiedliche Förderungen Geld bekommen.

Das sind die Fördersäulen im Startchancen-Programm

Mit dem Förderprogramm sollen vor allem die Grundkompetenzen Rechnen, Lesen, Schreiben gefördert werden. Zum Start des Schuljahrs 2024/25 werden zunächst 2.125 Schulen von Bund und Ländern gefördert. Etwa 60 Prozent der geförderten Schülerinnen und Schüler werden Grundschüler sein. Neben Grundschulen profitieren vor allem weiterführende, aber auch berufliche Schulen vom Startchancen-Programm. Die Gelder verteilen sich dabei auf drei Fördersäulen:

Säule I: Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung – etwa Lese- oder Sofaecken.

Säule II: Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung

Säule III: Zusätzliche Fachkräfte, damit multiprofessionelle Teams gestärkt werden.

An der Herbert-Binkert-Schule in Saarbrücken plant der Schulleiter bereits konkret mit dem Budget. Ab Januar möchte er erste Gespräche mit dem Baubeauftragten der Schule führen. Gemeinsam wollen sie überlegen, wie durch die Öffnung von Räumen im Gebäude ein besseres Lernklima entstehen kann. Ein weiterer Teil des Geldes könnte später in eine App oder Software investiert werden, um die Kommunikation zwischen den Lehrkräften und den Eltern zu erleichtern.

In anderen Bundesländern wie Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und Hessen ist die Bauplanung bisher kaum möglich. Keines dieser Länder hat bisher eine Förderrichtlinie für Säule 1 beschlossen. Doch die braucht es, damit die Schulen wissen, welche Projekte sie durch das Startchancen-Programm finanzieren können.

Manche Bundesländer enthalten der Öffentlichkeit, wie viel Geld die Startchancen-Schulen erhalten

In manchen Städten war die Höhe der Budgets pro Schule bis zuletzt unklar, berichten die Badische Zeitung und die Nordwest-Zeitung. Dieses Problem scheint auch in anderen Bundesländern zu bestehen. Zumindest veröffentlicht kaum ein Bundesland, wie es das Geld aus dem Programm auf die Schulen und Schulträger verteilt. Nur in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz lässt sich nachvollziehen, wo die öffentlichen Mittel des Programms ankommen. Andere Bundesländer blockieren teilweise die Auskunft über die Verteilung des Geldes. Selbst auf mehrfache Nachfrage von CORRECTIV.Lokal stellen die Ministerien die Informationen nicht zur Verfügung.

Das niedersächsische Kultusministerium schreibt: „Eine Veröffentlichung der jährlichen Zuweisungen an die Schulen ist nicht vorgesehen“, ohne dies weiter zu begründen. Dabei sind es Steuereinnahmen, die das Startchancen-Programm ermöglichen. Auch Hessen und Sachsen-Anhalt geben an, die Informationen derzeit nicht zur Verfügung stellen zu können, ohne es zu begründen. CORRECTIV.Lokal prüft daher eine Auskunftsklage, um die Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Thüringens Kultusministerium gibt einen Einblick, was jedes Jahr vom Förderprogramm bei den Startchancen-Schulen ankommt: Pro Schülerin und Schüler stünden 300 Euro im Jahr über „Säule 2“ bereit, teilt eine Pressesprecherin mit. Hinzu kommen im Schnitt etwa 170.000 Euro für „eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung“. Außerdem wird bei 200 Kindern eine Vollzeitstelle finanziert.

Die Länder klaffen bei der Umsetzung auseinander

Schon hier zeigt sich: Die Startchancen-Budgets variieren stark zwischen den Bundesländern. Wäre Matthias Römers Schule in Thüringen statt im Saarland, könnte er für seine 400 Schülerinnen und Schüler eine zweite Stelle für Schulsozialarbeit ausschreiben. Hessens Kultusministerium teilt mit, dass pro Schule eine halbe bis zwei Stellen ausgeschrieben werden könnten – in Nordrhein-Westfalen sind es eine halbe bis eineinhalb, in Sachsen-Anhalt eine Vollzeitkraft.

Im Saarland verteilen sich ab Januar „mindestens 25 Vollzeitäquivalente“ auf 55 Startchancen-Schulen, so gibt es das Ministerium für Bildung und Kultur an. Im Schnitt wäre das nicht mal eine halbe Stelle pro Schule. Hinzu kommt, dass die neuen Stellen „multiprofessionell“ besetzt werden sollen. Doch wie bei Lehrkräften herrscht auch in vielen anderen Berufsgruppen akuter Fachkräftemangel.

Warum unterscheiden sich die Startchancen-Budgets so stark?

Warum es zu diesen Unterschieden kommt, liegt an der Mittelverteilung der Bundesländer. Denn diese entscheiden, nach welchen Kriterien die Schulen Geld erhalten. Die Bundesländer legen vor allem auf drei Arten das Budget der Schulen in der zweiten und dritten Fördersäule fest:

Variante 1: Jede Startchancen-Schule eines Bundeslandes erhält die gleichen Mittel – unabhängig von Schulgröße und Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler. So verteilt zum Beispiel Bayern das Geld aus dem Programm.

Variante 2: Jede Startchancen-Schule eines Bundeslandes erhält einen Minimumbetrag in bestimmter Höhe und zusätzliche Mittel pro Schülerin und Schüler – so etwa in Thüringen.

Variante 3: Die Länder verteilen das Geld auf die Schulträger. Das sind in den meisten Bundesländern die Landkreise und kreisfreien Städte. Diesen Weg geht Rheinland-Pfalz.

Die Gemeinschaftsschule in Saarbrücken erhält für Schul- und Unterrichtsentwicklung aus Säule 2 weniger Geld als bayerische Schulen. In Zahlen: Für die Herbert-Binkert-Gemeinschaftsschule stehen dafür jährlich etwa 35.000 Euro bereit, während in Bayern jede Schule für denselben Zeitraum 62.000 Euro erhält.

„Das sind Beträge, die nimmt man und ist dankbar. Jetzt zu sagen, das würde hier alles umwerfen, das wäre vermessen“, sagt Schulleiter Römer. Das größte Problem an seiner Schule werde damit nicht wirklich gelöst: zu große Klassen und zu wenig Personal. Mit vier weiteren Lehrkräften könnten die Klassen an der Saarbrückener Gemeinschaftsschule verkleinert und damit der Unterricht schon verbessert werden, sagt er. Doch diese Stellen wären teuer und sind nicht Teil der Startchancen-Förderung.

Externe Dienstleistungen und Beratungen können wiederum über das Startchancen-Programm gefördert werden, um die gesetzten Ziele zu erreichen, wie es in einem Orientierungspapier des Bundes steht. Besonders das Chancenbudget aus Säule 2 steht für Dienstleistungen wie Beratung oder Workshops zur Verfügung. Dieses Budget ist in den meisten Bundesländern nicht streng an Maßnahmen des Förderprogramms gebunden und wird als „freies Drittel“ bezeichnet. Aber auch hier gibt es keinen einheitlichen Kurs. Rheinland-Pfalz will den Schulen „keine Mittel zur völlig freien Verfügung“ stellen, wie ein Pressesprecher des Bildungsministeriums mitteilt. Andere Länder regeln das lockerer und schränken nicht ein, mit wem Schulen zusammenarbeiten können.

Schulen sollen damit finanzieren, was das Programm nicht abdeckt, wie Lizenzen für Lern- oder Verwaltungssoftware. Viele Anbieter werben bereits seit Monaten mit digitalen Lern-Tools, Audiostiften, Online-Nachhilfe, Fortbildungen und Klassenfahrten. Denn auch private Unternehmen in der Bildungsbranche sehen ihre Chance im Programm und bieten teilweise kostenfreie Unterstützung bei Förderanträgen an.

Seit der Bekanntgabe der Startchancen-Schulen im Juni werden manche Schulen regelrecht mit Angeboten geflutet, teilt auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal das Bildungsministerium von Rheinland-Pfalz mit. Schulen sollen diese Angebote bis auf Weiteres ignorieren. Auch in Bayern ist die Zusammenarbeit mit Drittanbietern erst in einer „späteren Projektphase“ möglich. Das soll Schulen unter anderem vor unseriösen Angeboten schützen. Andere Bundesländer setzen auf Beratung, Empfehlungslisten und Online-Portale. Dort könnten Schulen dann zuvor geprüfte Angebote auswählen. Das wartet auch Matthias Römer ab. Bisher landen alle Angebote, die er zugeschickt bekommt, in seinem E-Mail-Papierkorb.

Dass nicht alles perfekt startet, war wohl auch eingeplant. Das Startchancen-Programm soll ein „lernendes Programm“ sein, unter anderem durch wissenschaftliche Begleitung.

Nach fast fünf Monaten wird ersichtlich, dass es noch viel aufzuholen gibt.

Auch Römer zieht nüchtern Bilanz: „Das hört sich alles nach viel an, aber der große Wurf ist es nicht.“ Für die Herbert-Binkert-Gemeinschaftsschule sei das Startchancen-Programm nur eine kleine Unterstützung. Römer hat den Eindruck, „dass die verantwortliche Politik das Programm als Feigenblatt benutzt“.

CORRECTIV.Lokal bleibt mit seinem deutschlandweiten Lokaljournalismus-Netzwerk am Thema dran.

Wir wollen wissen: Wie viel Geld wird tatsächlich ausgegeben? Kommt das Geld bei den Schulen und Kindern an, die es am meisten brauchen? Wofür wird das Geld konkret ausgegeben? Werden die Ziele des Programms erreicht? Wie groß ist der Verwaltungsaufwand? Und entwickelt sich tatsächlich ein positiver Wandel im deutschen Bildungssystem?

Um diese Fragen beantworten zu können, sind wir auf Sie angewiesen. Uns interessieren die Erfahrungen von Schulrektorinnen, Lehrkräften, Eltern, Psychologen, Sozialarbeiterinnen und anderen Menschen, die einen Einblick ins Startchancen-Programm und das Bildungssystem in Deutschland haben. Schreiben Sie an unsere Reporterin Miriam Lenz oder nutzen Sie weitere Kontaktwege, wie den anonymen Briefkasten.

Recherche: Robin Albers, Luis Beyerbach, Miriam Lenz
Redaktion: Jonathan Sachse
Faktencheck: Pia Siber

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Author: Jonathan Sachse

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