Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Stalking, Doxing, Nacktfotos: Was ist digitale Gewalt?
Für viele ist „digitale Gewalt“ ein Fremdwort. Andere wiederum kennen digitale Gewalt allzu gut – denn sie macht ihnen das Leben zur Hölle. Der pulsierende Begriff, mit dem inzwischen sogar Politik gemacht wird, steht nicht im Duden, nicht in der Wikipedia. Wo kommt er her und was bedeutet er genau? Ein Essay.
In zwielichtigen Foren kursieren Abermillionen Nacktfotos von Frauen, die sich niemals nackt im Netz zeigen wollten. Heimlich installierte Spionage-Apps auf Smartphones verraten permanent den Standort ihrer nichts ahnenden Besitzer*innen. Messenger-Apps füllen sich mit Bedrohungen und Beleidigungen, verfasst von gewaltsamen Ex-Partner*innen. All diese Dinge haben etwas gemeinsam: Sie fallen unter digitale Gewalt.
Aber worüber reden wir genau, wenn wir von digitaler Gewalt reden? Der Begriff verbreitet sich zunehmend, in Hilfsorganisationen und Forschung, in Nachrichtenmedien und Politik. Er kann Missstände sichtbar machen, die sonst übersehen wurden. Im Jahr 2023 tauchte digitale Gewalt erstmals in den Eckpunkten für ein geplantes Gesetz des Bundesjustizministeriums auf.
Zu digitaler Gewalt kursieren verschiedene Definitionen, eine einheitliche gibt es nicht. Vergangenes Jahr gestand die Bundesregierung ein: Sie selbst habe keine Definition für das Phänomen, und das, obwohl sie gerade an einem Gesetz arbeitet, um es zu bekämpfen. Wie gut kann man etwas bekämpfen, das man nicht einmal klar benennen kann? Prompt stellte sich heraus: Das geplante „Gesetz gegen digitale Gewalt“ soll auch Akteur*innen stärken, die gar nicht von digitaler Gewalt betroffen sind.
Kaum in der breiten Öffentlichkeit angekommen muss sich der Begriff also gegen seine Verwässerung wehren, und gegen den Versuch einer politischen Umdeutung. In diesem Essay geht es um die Begriffsgeschichte digitaler Gewalt, seinen Auftritt auf der politischen Bühne – und wie der Begriff seine eigentliche Stärke verteidigen kann.
Seit den 2000ern: „Cyber violence“ verbreitet sich in der Forschung
Bevor der Begriff „digitale Gewalt“ ins Deutsche wanderte, hat er sich auf Englisch verbreitet, und zwar als „Cyber violence“. Erste Spuren gibt es schon in den 2000er Jahren, schreiben die Forschenden der australischen Monash University in einer Literatur-Analyse.
Der Begriff ‚Cyber violence‘ entstand Anfang der 2000er Jahre mit der weiten Verbreitung von tragbaren Laptops und dem Web 2.0.
Für ihre Analyse haben die Forschenden Veröffentlichungen zu „Cyber violence“ zwischen 2006 und 2016 untersucht. Sie stellten fest, dass sich die Beschreibungen zwar ähneln, es aber keinen Konsens innerhalb der Forschungsgemeinschaft über eine Definition gibt. Häufige Formen von „Cyber violence“ seien etwa Online-Belästigung, Cybermobbing, „revenge porn“ oder Cyberstalking. Viele Gewaltformen betreffen insbesondere Frauen, wie aus der Analyse hervorgeht.
Diese Bedeutung von „Cyber violence“ ist dominant, das heißt, sie taucht in den meisten einschlägigen Veröffentlichungen auf. Es gibt aber auch Fälle, in denen “ der Begriff „Cyber violence“ mit einer völlig anderen Bedeutung auftaucht – beispielsweise als Begriff für staatliche Angriffe im Krieg oder als Begriff für virtuelle Darstellungen von Gewalt in Videospielen. Darum soll es an dieser Stelle aber nicht gehen.
Im Jahr 2015 veröffentlichte die UN einen Bericht, der vor „Cyber violence“ gegen Frauen und Mädchen warnte, es geht etwa um Stalking und Belästigung. Zwei Jahre später veröffentlichte auch das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen einen Bericht zu „Cyber violence“ gegen Frauen und Mädchen. Im Jahr 2018 gab das EU-Parlament eine Studie in Auftrag mit dem Thema „Cyber violence and hate speech against women“.
Die EU-Kommission verwendet den Begriff in ihrer Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, auf die sich Anfang 2024 die EU-Organe per Trilog geeinigt haben. Im Kommissions-Entwurf heißt es: „Obwohl Frauen unverhältnismäßig stark von diesen Straftaten betroffen sind, gilt die Kriminalisierung (…) für alle Opfer, auch Männer und Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität“. Die in der Richtlinie beschriebenen Gewaltformen sind etwa das nicht-einvernehmliche Teilen von intimen Inhalten, „Cyberstalking“, „Cybermobbing“ und „Aufstachelung“ zu Hass und Gewalt.
2008: „Digitale Gewalt“ kommt nach Deutschland
Die Geschichte des deutschen Begriffs „digitale Gewalt“ nahm ihren Anfang offenbar in Frankfurt am Main. Es war das Jahr 2008, also ein Jahr nach der Präsentation des ersten iPhones, da bemerkten die Berater*innen beim Frauennotruf Frankfurt etwas Neuartiges. Erstmals wandten sich Mädchen und Frauen mit neuen Anliegen an den Verein: Verleumdung mittels falscher Behauptungen im Internet, digitale Überwachung und Kontrolle, Erpressung durch Bild- und Videoaufnahmen. So erinnert sich heute Geschäftsführerin Angela Wagner an diese Zeit.
Um auf das neue Phänomen aufmerksam zu machen, suchten die Berater*innen einen Sammelbegriff. „Durch die explizite Benennung dieser Form der Gewalt wollten wir zum einen ein neues Phänomen beschreiben und zum anderen die Gewaltdimension dieser Angriffe verdeutlichen“, schreibt uns Wagner. Für die Begriffssuche bat der Verein die Werbeagentur „Y&R“ um Unterstützung.
Das Thema landete bei Uwe Marquart, der heute noch immer in der Branche arbeitet. „Ich würde jetzt sehr gerne mit einer kreativen Ideenfindungsstory aufwarten, einer skurrilen Initialzündung“, schreibt er uns per E-Mail. „Die gibt es in dem Falle aber nicht.“ Marquart und sein Team hätten lediglich von den beschriebenen Fällen gelesen und sie mit dem Begriff „digitale Gewalt“ unter einen Hut gebracht. „Es lag aus unserer Sicht einfach auf der Hand, diese neue Kategorie von Gewalt mit diesem Namen zu versehen.“ Dass der sehr ähnliche, englische Begriff „Cyber violence“ zu dieser Zeit schon kursierte, habe Marquart damals nicht gewusst.
Die Geschichte deckt sich mit den ersten Spuren „digitaler Gewalt“ im Genios-Pressearchiv. In den frühen Nullerjahren tauchte der Begriff zunächst in einem anderen Kontext auf: Als die Beschreibung von dargestellter Gewalt in Computerspielen. Die ersten Verwendungen im heutigen Wortsinn stammen jedoch aus dem August 2008, als Wiesbadener Tagblatt und Frankfurter Rundschau über den Frauennotruf Frankfurt berichten. Bis der Begriff nachhaltig in der Medien-Öffentlichkeit verfängt, vergehen noch viele Jahre.
Um 2017: Der Begriff nimmt Fahrt auf
In den späten Zehnerjahren häufen sich die Spuren zum deutschen Begriff „digitale Gewalt“. Außerdem lässt sich vermehrt der Brückenschlag zwischen digitaler Gewalt und Netzpolitik beobachten.
Im Jahr 2017 nutzt etwa die Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenminister*innen (GFMK) den Begriff erstmals im Bericht über ihre Beschlüsse. Die Minister*innen fordern darin die Bundesregierung auf, digitale Gewalt in ihrer digitalen Agenda zu integrieren. Noch 2014 und 2015 nutzte die GFMK die Begriff „Cybergewalt“.
Auch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben hat im Jahr 2015 erstmals „Cyber Gewalt“ als eigenständige Form der Gewalt dokumentiert, schreibt uns eine Sprecherin auf Anfrage. Das Bundesamt bietet mit dem Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ eine Anlaufstelle für Betroffene an. Seit wann genau das Hilfetelefon die Übersetzung „digitale Gewalt“ nutzt, könne man nicht mehr mit Sicherheit sagen. Spätestens 2017 findet sich „digitale Gewalt“ ausdrücklich auf einer Infoseite des Hilfetelefons.
Im selben Jahr startet der Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Finanzierung des Projekts bff: aktiv gegen digitale Gewalt. Ebenso 2017 veröffentlicht Anne Roth, langjährige netzpolitische Referentin der Linksfraktion, auf Zeit Online den Artikel: „Digitale Gewalt: Tags und nachts in Cyberparks“ Ein Aufschlag in einem großen Nachrichtenmedium, auf den – mit Verzögerung – Hunderte weitere journalistische Veröffentlichungen folgen.
Im Pressearchiv Genios steigt die Anzahl archivierter Berichte mit dem Stichwort ab 2019 sprunghaft an. In diesem Jahr tauchte der Begriff auch erstmals bei netzpolitik.org auf, unter anderem in einem Podcast mit Anne Roth und der Redakteurin Chris Köver.
Der Begriff schaffte es letztlich ins Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl 2021, in den Koalitionsvertrag der Ampelregierung und schließlich in den Namen eines geplanten Gesetzes „gegen digitale Gewalt“.
Dennoch: Im März 2024 steht „digitale Gewalt“ nicht im Duden, nicht in der Wikipedia, nicht im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprachen (DWDS).
Definitionen aus der Praxis
Nutzt man gängige Suchmaschinen, stößt man vor allem auf drei aus der Praxis stammende Definitionen für „digitale Gewalt“. Sie stammen vom bff (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe), dem Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ und dem Verein Frauenhauskoordinierung (FHK).
Aus den drei Definitionen geht hervor: Geprägt wurde „digitale Gewalt“ vor allem, um Gewalt gegen Frauen zu beschreiben. So schreibt der bff :
Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für verschiedene Formen geschlechtsspezifischer Gewalt. Gemeint sind Gewalthandlungen, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet. Wir gehen davon aus, dass digitale Gewalt nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘ funktioniert, sondern meist eine Fortsetzung oder Ergänzung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken darstellt.
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ schreibt:
Der Begriff umfasst verschiedene Formen der Herabsetzung, Belästigung und Nötigung anderer Menschen mit Hilfe elektronischer Kommunikationsmittel über das Internet, in Chaträumen, beim Instant Messaging und/oder mittels mobiler Telefone.
Der Verein FHK weist darauf hin: „Frauen und Mädchen sind von digitaler Gewalt besonders häufig betroffen ‒ wie bei anderen Gewaltformen auch.“ Zur Definition schreibt der Verein:
Täter nutzen technische Geräte wie Smartphones, Laptops oder Ortungsgeräte, um Betroffene zu überwachen, von ihrem sozialen Umfeld zu isolieren, sie zu erpressen oder ihren Ruf zu schädigen. Einfallstore sind oft Apps und Plattformen wie Messenger, E-Mail, Stalkerware oder Social Media.
Eine besondere Rolle bei dem Phänomen spielt der soziale Nahbereich. „In (Ex-)Partnerschaften ist digitale Gewalt meist eng verbunden mit anderen Gewaltformen, z.B. körperlicher und psychischer Gewalt“, erklärt der Verein FHK. Häufig seien davon nicht nur die Frauen selbst, sondern auch ihre Kinder betroffen.
Der Begriff diffundiert
Das Justizministerium hat 2023 seine Eckpunkte für ein Gesetz gegen digitale Gewalt gemeinsam mit einem kurzen Begleittext veröffentlicht. Er kommt einer Definition zumindest nahe:
Immer wieder werden Menschen im Netz massiv beleidigt und verleumdet oder im schlimmsten Fall wird dort ihr Leben bedroht. Für viele Betroffene ist es wichtig, dass solche Inhalte schnell gelöscht und die weitere Verbreitung verhindert werden.
Die Kritik an dem Vorstoß war drastisch: Die Eckpunkte lassen einen Großteil der als „digitale Gewalt“ diskutierten Gewaltformen außen vor. Es geht vor allem um Inhalte im Netz – nicht etwa um Stalking oder Kapern von Online-Accounts. Auch von einer Geschlechter-Dimension ist im Eckpunktepapier keine Spur mehr. Daraus lässt sich schlussfolgern: Das geplante Gesetz gegen digitale Gewalt hat seinen Namen nicht verdient.
Das geplante Gesetz ist ein Beispiel für eine Begriffs-Diffusion, die sich auf andere Weise bereits beim Begriff Hassrede beobachten lässt. Aus seiner Historie heraus beschreibt digitale Gewalt ein vorrangig geschlechtsspezifisches Phänomen. Es ist ein Begriff, der gesellschaftliche Privilegien und Diskriminierung reflektiert. Im erweiterten Sinne ist das offenbar nicht mehr der Fall. Ein engerer Begriff von digitaler Gewalt kann die besondere Benachteiligung von Frauen im Kontext von Gewalt sichtbar machen. Ein erweiterter Begriff macht sie wieder unsichtbar. Im Gegenzug kann eine Erweiterung zumindest die Möglichkeit schaffen, weitere besonders betroffene Gruppen zu inkludieren.
Im Jahr 2024 ist eine repräsentative Studie zur Verbreitung von Formen digitaler Gewalt in Deutschland erschienen, angestoßen von den Organisationen Das NETTZ, GMK, HateAid und NdM, die zusammen das „Kompetenznetzwerk Hass im Netz“ bilden. Die Studie nutzt als Sammelbegriff zwar „Hass im Netz“; erforscht aber auch Formen digitaler Gewalt, darunter neben Drohungen und Beleidigungen auch Doxing und bildbasierte Gewalt. Der Studie zufolge sind nicht nur Frauen besonders stark von solchen Gewaltformen betroffen, sondern auch „Menschen mit Migrationshintergrund“ und „Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung“.
Bei digitaler Gewalt können verschiedene Dimensionen von Diskriminierung also eine besondere Rolle spielen. Angesichts der Begriffs-Diffusion könnte es sich lohnen, „Digitale Gewalt gegen Frauen“ zu sagen, wenn man ausdrücklich auf die geschlechtsspezifische Dimension hinweisen will. HateAid schreibt uns auf Anfrage, die Organisation betrachte digitale Gewalt nicht als vorrangig geschlechtsspezifisches Phänomen, auch wenn es eine wesentliche geschlechtsspezifische Dimension habe.
Konkrete Gewaltformen prägen den Begriff
Bei den beschriebenen Definitionen von digitaler Gewalt fallen zwei Besonderheiten ins Auge: Einerseits bleibt der überaus vieldeutige Begriff „Gewalt“ selbst undefiniert. Andererseits stützen sich die Definitionen vor allem auf konkrete Erscheinungsformen von Gewalt. Besonders ausführlich ist die Liste beim Verein FHK, dort stehen unter anderem:
Stalking, unerwünschte Kontaktaufnahme, Belästigungen, Bedrohungen, Ortung und Überwachung, Identitätsmissbrauch und -diebstahl, Veröffentlichung intimer Fotos oder Videos, Bloßstellungen oder Beleidigungen über soziale Medien, Fake-Profile, Cybermobbing, versteckte Mini-Kameras, Missbrauch von Smart-Home-Technologien, Doxing, Überwachungssoftware, Missbrauch bekannter Zugangsdaten, Hatespeech
Dass Definitionen vor allem mit konkreten Gewaltformen arbeiten, lässt sich wohl durch die Funktion des Begriffs „digitale Gewalt“ erklären. Er ist überhaupt erst entstanden, nachdem Beratungsstellen einen Sammelbegriff für neue Phänomene suchten, die sich auffällig häuften. Mit dem Begriff lässt sich eine Vielzahl an Phänomenen bündig ausdrücken und sichtbar machen. Er kann ein Bewusstsein für das strukturelle, gesellschaftliche Problem schaffen – und somit verhindern, dass die Erlebnisse der Betroffenen als versprengte Einzelfälle verkannt werden. Der Begriff kann auch Hilfsangebote für Betroffene und die Forderung nach mehr Ressourcen bündeln.
Schwächen einer Beispiel-basierten Definition
Eine Definition von digitaler Gewalt auf bloßer Grundlage von Beispielen hat jedoch mindestens drei Schwächen. Zum einen ist die Definition nicht besonders flexibel und müsste jedes Mal erweitert werden, sobald neue Gewaltformen auftauchen. Vermutlich wird der Verein FHK früher oder später etwa „nicht-einvernehmliche Deepfakes“ in seiner Liste digitaler Gewaltformen ergänzen.
Zweitens ist eine Beispiel-basierte Definition kaum gegen unlautere Versuche geschützt, das Phänomen umzudeuten. So lautete eine zentrale Kritik am geplanten Gesetz gegen digitale Gewalt: Das Gesetz stärke Akteure, die überhaupt nicht zu den Opfern zählen, und das auch noch im Namen des Gewalt-Schutzes. Meine Kolleg*innen haben das auf den Punkt gebracht, als sie titelten: Urheberrechtsverletzungen sind jetzt digitale Gewalt.
Drittens wirkt eine Beispiel-basierte Definition auf eine gewisse Weise unfertig. Immerhin muss es ja etwas Verbindendes zwischen all den Beispielen geben. Bloß, wie ließe es sich in Worte fassen?
Der Gewalt-Begriff hinter „digitaler Gewalt“
Die bisherigen Definitionen „digitaler Gewalt“ setzen ein Verständnis von „Gewalt“ voraus, ohne es ausdrücklich zu erklären. Der Gewalt-Begriff ist vielfältig, es gibt unter anderem brachiale Gewalt, politisch motivierte Gewalt oder Staatsgewalt. Auf dem Weg zu einer Definition dürfte vor allem ein Fokus auf zwischenmenschliche Gewalt helfen.
Der Duden erklärt Gewalt unter anderem als „unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jemand zu etwas gezwungen wird“. Mithilfe von „Zwang“ lässt sich Gewalt beschreiben, die nicht notwendigerweise körperlich sein muss. Zwang beschreibt die Beziehung zwischen den Ausübenden und dem Ziel der Gewalt.
In eine ähnliche Richtung geht die soziologische Definition aus dem Politiklexikon von Klaus Schubert und Martina Klein:
Gewalt bedeutet den Einsatz physischer oder psychischer Mittel, um einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten Gewalt durch Gegen-Gewalt zu begegnen.
Auch hier spielt das fehlende Einverständnis des Gewalt-Ziels eine entscheidende Rolle. Es wird ausdrücklich ein breiterer Begriff von Gewalt beschrieben, der nicht nur die Anwendung physischer Gewalt umfasst, sondern anerkennt: Angriffe und Verletzungen können auch psychisch sein.
Versuch einer allgemeinen Definition für digitale Gewalt
Das „Kompetenznetzwerk Hass im Netz“ greift direkt auf das Politiklexikon zurück und liefert diese allgemeine Definition von „digitaler Gewalt“:
Digitale Gewalt ist der Einsatz digitaler, virtueller oder online-kommunikativer Mittel, um einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen oder c) der solchermaßen ausgeübten Gewalt durch Gegen-Gewalt zu begegnen.
Einen ähnlichen Versuch hat der Europarat vorgelegt. Das ist eine nicht zur EU gehörende Menschenrechtsorganisation mit 46 Mitgliedstaaten. Ein Komitee des Europarats definierte „Cyber violence“, frei aus dem Englischen übersetzt, so:
Die Nutzung von Computersystemen, um Gewalt gegen Personen zu verursachen, zu erleichtern oder anzudrohen, die zu körperlichem, sexuellem, psychologischem oder wirtschaftlichem Schaden oder Leid führt (oder führen kann) und die Ausnutzung der Umstände, Eigenschaften oder Schwachstellen der Person einschließen kann.
Beide Definitionen sind ambitioniert, aber sehr breit. Sie umfassen, wenn man sie wörtlich nimmt, auch viele Phänomene, die typischerweise nichts mit digitaler Gewalt zu tun haben. Darunter würden etwa auch staatliche, bewaffnete Drohnenangriffe fallen, Phishing- und Ransomware-Attacken durch kommerzielle Online-Kriminelle, Diskriminierung durch algorithmische Entscheidungssysteme – nahezu das gesamte Computer-basierte Ungemach, das man sich vorstellen kann.
Darüber hinaus ist zumindest die Europarat-Definition sehr schmal. Durch die Beschränkung auf „Computersysteme“ sind manche Formen digitaler Gewalt ausgeschlossen, etwa Filmen mit versteckter Kamera oder Stalking mit GPS-Peilsendern. Es braucht also einen anderen Ansatz.
Als Versuch, dem Begriff und seiner Historie gerecht zu werden, schlage ich persönlich folgende Definition vor:
Digitale Gewalt ist ein Angriff auf das primär psychische Wohlergehen eines bestimmten Menschen ohne Einverständnis, und zwar mittels digitaler Technologien. Der Sammelbegriff umfasst mehrere Formen zwischenmenschlicher Gewalt, die Frauen und andere marginalisierte Gruppen der Gesellschaft besonders treffen.
In der Definition tauchen einige Elemente auf, die ich näher erläutern möchte:
Mensch: Dieses Wort hilft dabei, digitale Gewalt von anderen Handlungen abzugrenzen, die etwa einem Unternehmen schaden sollen. So würden zum Beispiel potentiell geschäftsschädigende, schlechte Restaurantkritiken oder Verletzungen des Urheberrechts den Begriff digitaler Gewalt aushöhlen.
bestimmt: Diese Formulierung hilft dabei, digitale Gewalt von anderen Handlungen abzugrenzen, die dem Wohlergehen von Personen unbestimmt schaden. So können private Daten einer Person etwa durch Doxing durch den Ex-Partner im Netz landen: Das wäre ein bestimmter Angriff und damit digitale Gewalt. Wenn dieselben Daten allerdings mit Tausenden anderen durch den Adressleak eines schlecht gesicherten Online-Shops im Netz landen, war es kein Angriff auf eine bestimmte Person und keine digitale Gewalt.
zwischenmenschlich: Nicht nur das Ziel digitaler Gewalt ist ein Mensch, die Gewalt geht auch von einem Menschen aus. Angriffe etwa durch Staaten, Behörden oder Unternehmen sind damit nicht gemeint.
Angriff ohne Einverständnis: Diese Formulierung hilft dabei, Gewalt ohne die Begriffe „Wille“ oder „Zwang“ zu beschreiben. Denn Gewalt kann auch vor jeglicher Willensbildung passieren, und sie kann sich aufdrängen, ohne dabei direkt eine extreme Form wie Zwang anzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, inwiefern Angreifenden bewusst ist, dass sie dem Wohlergehen eines Menschen schaden – gerade bei der Verbreitung nicht-einvernehmlicher Nacktfotos zum Beispiel können Täter*innen ignorant sein.
primär psychisch: Die Eingrenzung hilft dabei, digitale Gewalt von anderen Technologie-basierten Handlungen abzugrenzen, die zwar auch einer Person schaden, aber das Phänomen digitaler Gewalt bis zur Unkenntlichkeit diffundieren lassen würden. So schaden zum Beispiel viele Formen kommerziell betriebener Online-Kriminalität einer Person primär finanziell (Phishing, Ransomware, Scams); bewaffnete Drohnen-Angriffe schaden einer Person primär körperlich; staatliches Hacking und Massenüberwachung schaden primär den Grundrechten einer Person auf etwa Privatsphäre und Meinungsfreiheit.
Scharfe Kritik, Polemik oder Satire und Polemik beispielsweise gegenüber Politiker*innen oder anderen einflussreichen Personen des öffentlichen Lebens schaden primär dem öffentlichen Ansehen – sofern sie keine Grenze zu persönlicher Hetze überschreiten. Extreme Beispiele für Satire, die nicht die Grenze zu digitaler Gewalt überschreiten, wären etwa das Gedicht „Schmähkritik“ von Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus dem Jahr 2016 oder das Titanic-Cover mit Papst Benedikt aus dem Jahr 2012.
Dennoch macht das Wörtchen „primär“ deutlich: Digitale Gewalt kann auch mittelbare, andere Folgen haben. Zum Beispiel körperliche Folgen wie Schlafstörungen oder Angstzustände. Im sozialen Nahbereich ist sie außerdem oft von primär körperlicher Gewalt begleitet.
digitale Technologien: Diese Formulierung ist ziemlich weit gefasst und würde wohl auch eine digitale Küchenwaage umfassen, die sich kaum für digitale Gewalt einsetzen lässt. Die bislang beobachteten Formen digitaler Gewalt sind aber bereits so vielfältig, dass eine engere Eingrenzung an dieser Stelle zu eng wäre.
Kein juristischer Begriff
Wer Gesetze gegen digitale Gewalt verspricht, muss den Begriff kritisch reflektieren, denn es ist kein juristisch geprägter Begriff. Digitale Gewalt beschreibt gesellschaftliche Phänomene und stellt dabei ihre Gemeinsamkeiten heraus. Er macht verschiedene Formen primär psychischer Angriffe gebündelt sichtbar. Diese Bündelung ist seine analytische Stärke. Für Betroffene summieren sich die Gewaltformen und werden eine enorme Belastung; für die Außenwelt können sie allzu leicht unscheinbar bleiben. Um mehrere Gewaltformen bündeln zu können, muss der Begriff wandelbar bleiben, denn neue digitale Technologien werden auch neue digitale Gewaltformen hervorbringen.
Ein Begriff, der sich ständig wandelt, ist aus juristischer Perspektive jedoch schwer handhabbar. Juristische Begriffe müssen präzise sein und möglichst klar zum Ausdruck bringen, was rechtens ist und was nicht.
Ein pragmatischer Umgang damit zeigt sich in der EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Diese Richtlinie nennt konkrete, einzelne Gewaltformen: etwa bildbasierte Gewalt oder Stalking. Offenbar muss man das breite Phänomen „digitale Gewalt“ in seine konkreten Erscheinungsformen aufteilen, um es auf Ebene von Gesetzen bearbeiten zu können. Diese Erscheinungsformen lassen sich dann klarer definieren und ins bestehende Recht einfügen.
Es ist jedoch allzu vereinfachend und irreführend, wenn etwa das Innenministerium (BMI) behauptet: „In jedem Falle ist digitale Gewalt strafbar“. Demnach müsste die Strafbarkeit eine harte Bedingung sein, sie stünde an erster Stelle. Die Polizei verstehe unter „digitaler Gewalt“ etwa „Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung, Bedrohung, Nötigung oder Volksverhetzung“, heißt es weiter. Eine solche Verengung auf konkrete Straftatbestände wird dem Begriff und seiner Historie aber nicht gerecht. Denn seine Stärke liegt gerade darin, zuerst eine zwischenmenschliche Perspektive einzunehmen. Es geht zuerst darum, welche Gewaltformen Betroffene erleben. Erst danach stellt sich die Frage nach unter anderem juristischen Konsequenzen.
Begriff als Kompass
Der Begriff „digitale Gewalt“ kann ein Kompass sein, der zeigt, wo es Handlungsbedarf gibt. Das heißt aber nicht, dass jede einzelne Form digitaler Gewalt ausdrücklich im Strafgesetzbuch stehen muss. Viele Formen digitaler Gewalt fallen bereits unter allgemeinere Gesetze, zum Beispiel Bedrohung, Verleumdung oder Stalking. Das Problem besteht weniger im Mangel an Gesetzen als in der Klarheit und Umsetzung. Etwa weil Polizei und Staatsanwaltschaft die Betroffenen nicht ernst nehmen. Oder weil es juristischen Kabelsalat gibt, den Betroffene kaum durchdringen können, etwa bei bildbasierter Gewalt.
Oft kombinieren Täter*innen viele digitale Gewaltformen, und Betroffene hätten gleich mehrere Ansätze, um sich juristisch zu wehren. Genau das möchten viele aber nicht – weil sie zuvor und vor allem etwas anderes brauchen. Noch dringlicher als juristische Hilfe gegen digitale Gewalt ist oft soziale und psychologische Hilfe.
Viele Betroffene wollen wissen: Wie können sie das Gefühl von Kontrollverlust endlich loswerden, wie können sie wieder Kraft und Zuversicht schöpfen, wie ihre digitalen Geräte schützen, wie den Alltag wieder bewältigen? Hier können Polizei und Staatsanwaltschaft wenig ausrichten. Vielmehr braucht es geschulte Beratungsstellen und Sozialarbeiter*innen. Und die klagen seit Jahren, dass ihnen die Mittel fehlen. Der Begriff „digitale Gewalt“ kann helfen, immer wieder den Mangel solcher Hilfsangebote sichtbar zu machen.
Um im Interesse der Betroffenen Sichtbarkeit zu schaffen, muss der Begriff digitaler Gewalt wandelbar bleiben, schließlich soll er dem technologischen Wandel folgen. Andererseits muss er sich gegen Verwässerung verteidigen, weil er sonst seine analytische Stärke verliert.
Wessen Anliegen soll der Begriff sichtbar machen?
Wir haben uns vor der Veröffentlichung des Essays mit Fachleuten über die hier vorgeschlagene Definition digitaler Gewalt ausgetauscht. Das Feedback kreiste im Tenor um die Frage, wie eng oder breit so eine Definition sein sollte. Für HateAid zum Beispiel ist der Fokus auf zwischenmenschliche Gewalt zu eng. Aus Sicht der NGO können die Ziele digitaler Gewalt nicht nur Menschen sein, sondern auch Organisationen oder Unternehmen – beispielsweise ein Konzern, der mit queerfeindlichen Beleidigungen überzogen wird. Auch die Ausübenden können demnach nicht nur Menschen sein, sondern auch Staaten – beispielsweise ein Regime, das eine Hetzkampagne gegen eine Kritikerin befeuert.
Jede Verschiebung der Definition bedeutet eine Verschiebung von Sichtbarkeit. Ein möglichst breiter Begriff digitaler Gewalt kann noch mehr Phänomene beschreiben und problematisieren. Andererseits kann durch einen breiteren Begriff ein wertvoller Fokus verloren gehen. Der Begriff „digitale Gewalt“ entstand, um die Anliegen von Betroffenen zwischenmenschlicher Gewalt sichtbar zu machen – gerade weil sie allzu leicht übersehen werden. Eine Ausweitung des Begriffs auf Unternehmen, Organisationen oder Staaten würde diese Sichtbarkeit wiederum einschränken. Für die Probleme solcher Akteure gibt es bereits andere Begriffe, zum Beispiel Hetze. Dieses Essay plädiert deshalb für ein fokussiertes Verständnis von digitaler Gewalt als zwischenmenschlich.
Offenkundig ist der Begriff derzeit im Wandel, ein einheitlicher Gebrauch ist eher nicht in Sicht; auch nicht auf netzpolitik.org. Wenn das Verständnis von „digitaler Gewalt“ im öffentlichen Gebrauch weiter diffundiert, dann steigt der Bedarf nach zusätzlichen, genaueren Ausdrücken. Zum Beispiel könnte „digitale Partnerschaftsgewalt“ einen verloren gegangenen Fokus zurückgewinnen, indem der Begriff die Gewaltformen im sozialen Nahbereich wieder besonders sichtbar macht. Wie Nachrichtenmedien, Politiker*innen, Forscher*innen, Sozialarbeiter*innen und andere Fachleute über „digitale Gewalt“ sprechen, trägt maßgeblich dazu bei, welche Bedeutungen der Begriff gewinnt und verliert – und wessen Anliegen er sichtbar oder unsichtbar macht.
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Author: Sebastian Meineck