GASTBEITRAG Julia Leser, ZUERST ERSCHIENEN BEI VERFASSUNGSBLOG
„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“. Diese Aussage, wirkmächtig platziert auf dem Spiegel–Cover vom 21. Oktober 2023, stammt nicht von einem oder einer derjenigen Politiker:innen, von denen es unmittelbar zu erwarten gewesen wäre. Obwohl Forderungen nach Abschiebungen im „großen Stil“ eigentlich eine klare politische Heimat am rechten Rand haben, stammt sie von einem Sozialdemokraten, Olaf Scholz. Für viele Beobachter:innen aus den Rechts- und Sozialwissenschaften kommt dieses Spiegel-Cover dennoch nicht überraschend, sondern fügt sich nahtlos ein in die Chronologie des Rechtsrucks der deutschen Politik und Gesellschaft. Studien aus der politischen Anthropologie und Ethnografie zeigen, dass sich der sogenannte Rechtsruck keineswegs ruckhaft oder plötzlich ereignet, sondern das Resultat kontinuierlicher und beharrlicher Bemühungen identifizierbarer politischer Akteure ist – kurz: sie gewähren hilfreiche Einsichten in die Mikrodynamiken des Rechtsrucks.
AfD wählen wegen, nicht trotz
Der Anti-Migrationskurs der von Scholz getragenen Ampel-Politik (inklusive der Forderung nach Abschiebungen in größerer Quantität und Effektivität) zielt, die Vermutung liegt nahe, auf die Rückgewinnung von Wähler:innenstimmen. Seit Monaten dokumentieren Umfragen den kontinuierlichen Zuwachs für die Alternative für Deutschland (AfD). Zurzeit liegt die Prognose laut infratest dimap bei 22 Prozent für die AfD bei der nächsten Bundestagswahl. Bei den vergangenen Landtagswahlen in Bayern und Hessen am 8. Oktober 2023 wurde die AfD jeweils stärkste Oppositionspartei. Im Juni 2023 hat die AfD in der ostthüringischen Stadt Sonneberg zum ersten Mal den Einzug in einen Kreistag geschafft. Angesichts dieser Erfolge ist die Rückgewinnung abtrünniger Wähler:innen ein verständliches Anliegen aus Perspektive der Ampel-Parteien, nur wird das nicht gelingen, indem man die Forderungen der AfD übernimmt und in Gesetzesvorhaben übersetzt.
Aber wie dann? Warum wählen so viele Menschen überhaupt die AfD und warum werden es immer mehr? Und warum wählen Menschen die AfD trotz ihrer offenkundigen menschenfeindlichen, rassistischen und – in Teilen – gesichert rechtsextremen Politik? Warum wählen sie eine rechtsextreme Partei trotz der deutschen Vergangenheit, trotz des deutschen Selbstverständnisses um ein „Nie wieder“? Die semantische Logik dieser Frage ist übertrag- und ausweitbar, zum Beispiel: Warum wird Aiwanger gewählt trotz seiner antisemitischen Flugblattaffäre? Oder über Deutschland hinaus: Warum wird Trump gewählt trotz seines unverhohlenen Rassismus und seiner Misogynie, die beispielsweise in der Affäre um das Access Hollywood Tape so deutlich zum Ausdruck kam?
Die Unterstützung für rechtspopulistische Parteien ist hoch, nicht nur in Deutschland. Und bei genauerer Betrachtung der Dynamiken dieser zunehmenden Unterstützung wird deutlich, dass rechtspopulistische Parteien nicht trotz, sondern wegen dieser Inhalte und Rhetorik gewählt werden. Die augenscheinlichen Widersprüche haben eigene, kuriose Dynamiken, die in ethnografischer ‚close-up‘-Perspektive deutlich werden.
Rechte Komfortzonen
Ethnografische Forschung zur Normalisierung rechter und rassistischer Politik in Deutschland verkompliziert die Antworten auf die Fragen, wer die AfD wählt und aus welchen Gründen, ob beispielsweise aus „Protest“ oder aus „Überzeugung“. Im Gegensatz zu quantitativen Befragungen und Vermessungen der Wähler:innenschaft und ihren Zustimmungswerten nach sozialen Herkünften, regionalen Verteilungen und Milieu-Verortungen zeigen die ethnografischen Studien vor allem eins: Es gibt keine monokausale Erklärung für die zunehmenden AfD-Wahlerfolge.
Die ethnografischen Arbeiten über die AfD von beispielsweise Patrick Wielowiejski, Bhakti Deodhar und Florian Spissinger geben tiefe Einblicke in die lokalen Dynamiken der Mobilisierung und Bindung von Wähler:innen. Sie fragen: Wie ist die Partei in lokalen Gemeinschaften verankert und wie wird diese Verankerung hergestellt und stabilisiert? Wie beeinflussen regionale Bedingungen und lokalpolitische Umgangsweisen den Erfolg oder den Misserfolg von rechter Mobilisierung? Wie schaffen AfD-Politiker:innen Räume für Rassismus bzw. wie dehnen sie diese Räume aus? Was diese Studien fördern, ist ein Verständnis der allgegenwärtigen Normalisierung der Rechten, vor allem im Zusammenhang mit alltäglichen und latenten Formen von Rassismus, mit politischen Subjektivität(en) und unter besonderer Beachtung von lokalen, kontextspezifischen und mikropolitischen Dynamiken.
Wie man bei der AfD spricht
In einem Forschungsprojekt, in dem meine Kolleg:innen und ich uns mit dem Erstarken nationalistischer Einstellungen und Narrative seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ beschäftigt haben, haben wir auch die AfD und ihre Wahlkampfaktivitäten in den Jahren 2018 und 2019, also vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, genauer beobachtet. Wir besuchten zahlreiche öffentliche Veranstaltungen der AfD, die die Partei vor allem im ländlichen Raum organisierte: Veranstaltungen, die „Bürgerabende“ oder „Bürgerstammtische“ heißen, vorwiegend in den frühen Abendstunden in gemütlich eingerichteten Gaststätten stattfinden und bei denen Gäste die Möglichkeit haben, bei einem Bier mit den lokalen AfD-Vertreter:innen ins Gespräch zu kommen.
Meistens geht es in diesen Diskussionsräumen um ein gemeinsames Lamentieren über „desaströse“ Zustände in Deutschland, die vor allem mit Migration in Verbindung gesetzt werden. An beinahe jedem dieser Abende konnten wir zudem beobachten, wie Gäste sich beschwerten, dass man ja „nicht rechts“ oder „kein Nazi“ sei, nur weil man die AfD wähle, ihre Veranstaltungen besuche, oder sich „kritisch“ über „Ausländer“ äußere. Interessant war dabei stets, wie die AfD-Politiker:innen mit solchen Aussagen umgingen, nämlich mit voller Unterstützung. „Niemand hier ist rechts“, würden sie zum Beispiel sagen, oder „Wir werden stigmatisiert“ durch wahlweise „linksradikale Meinungsdiktatur“ oder „grüne Verbotspolitik“.
Sie normalisieren Rassismus
Jede:r, der an einem AfD-Bürgerabend teilnimmt, kann sich so rassistisch äußern wie er möchte – alles ist sagbar in diesen rechten Komfortzonen, die durch die AfD eingerichtet werden. Keine Aussage wird sozial sanktioniert oder kritisch reflektiert, nein, alles ist erlaubt. Selbst die Aussage, dass Deutschland noch heute „von den Alliierten besetzt sei“ und keine legitime, souveräne Verfassung habe, wurde bei einer von mir beobachteten Veranstaltungen von den AfD-Vertretern wohlwollend abgenickt und kritiklos zur Kenntnis genommen.
Die AfD schafft mit diesen abendlichen Veranstaltungen Räume, in denen es normal ist, sich rassistisch und menschenverachtend zu äußern. Sie arbeitet aktiv daran, den Ausdruck rassistischer Einstellungen zu destigmatisieren und so komfortabel wie möglich zu machen, und zwar mit Beharrlichkeit, mit Durchhaltevermögen, seit Jahren. Sie schaffen rassistische Wohlfühl-Räume: Räume des gemeinsamen Wohlbefindens, des Vergnügens, des Ausgelassen-Seins. Alltagsweltlich erfahrbar wird in diesen Räumen gerade nicht die Mobilisierung von rassistischem Hass oder der Angst vor „dem Anderen“, sondern eher eine einladende und gemütliche Atmosphäre.
Sie verschieben damit kontinuierlich, was sagbar ist. Sie normalisieren Rassismus. Und rechte Komfortzonen schafft die AfD nicht nur mit abendlichen Veranstaltungen in ländlichen Räumen Ostdeutschlands, sondern auch auf der Straße, mit Protesten, in digitalen Räumen und in den Parlamenten.
Beharrlichkeiten und neue Räume
Es braucht aktive und kontinuierliche Arbeit dafür, dass es normaler wird, sich in öffentlichen Räumen rassistisch zu äußern und dass selbst zunehmende offene Diskriminierung und Gewalt als normal angenommen werden. Diese Arbeit leistet unter anderem die AfD. Populismus bedeutet vor allem auch eine Popularisierung von Rassismus – parteigetrieben und gesamtgesellschaftlich wirksam, wie es an vielen Stellen, nicht nur auf dem Spiegel-Cover, momentan deutlich wird. Die Behauptung, Menschen wählen die AfD aus „Protest“ gleicht einer Bagatellisierung. Aber was bedeutet es, die AfD aus „Überzeugung“ zu wählen? Dass jede:r dieser Wähler:innen überzeugt rassistisch ist oder dass latente rassistische Einstellungen mittels AfD-Rhetorik abgerufen werden können?
Es ist unbehaglich, anzuerkennen, dass rassistische Einstellungen und Stereotypisierungen weit verbreitet sind – viel weiter als lediglich die 22 Prozent, die bei der nächsten Bundestagswahl die AfD wählen würden. Es gibt zahlreiche Formen und Gestalten von Rassismen, die unterschwellig wirken, versteckt sind, subtil rationalisiert werden und oft auch unterbewusst auftreten. Rassismus ist eine deutsche Realität, unter der Millionen Menschen leiden. Rassismus hat in Deutschland eine Geschichte, hat Genealogien und Kontinuitäten, und ist gesellschaftlich fest verankert. Rechtsruck bedeutet, aus mikropolitischer Perspektive, eine kontinuierliche Popularisierung und Normalisierung dieser rassistischen Realitäten.
Die Politik arbeitet hart am Rechtsruck
Der fortschreitende Rechtsdruck ist weder ein Automatismus noch eine selbstverständliche, folgerichtige Reaktion auf soziale und politische Herausforderungen. Im Gegenteil, der Rechtsruck ist das Ergebnis von kontinuierlichen Bemühungen identifizierbarer Akteure, umfasst die Schaffung und Bereitstellung von Möglichkeitsräumen sowie die beharrliche Konditionierung von Akzeptanz von eigentlich Unakzeptierbarem. Das zeigen mikropolitische und ethnografische Untersuchungen besonders deutlich.
Wenn also rechte Politiker:innen aktiv, überzeugt und kontinuierlich daran arbeiten, dass es zunehmend normaler wird, sich in öffentlichen Räumen rassistisch zu äußern, dann braucht es ebenso aktive, überzeugte und kontinuierliche Arbeit dafür, dass dieses Denken denormalisiert wird. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion über Rassismus in Deutschland, gut zugängliche politische Bildungsangebote für alle Bürger:innen und wir brauchen starke Gegenstimmen zu den sich zunehmend verschärfenden Anti-Migrations-Diskursen.
diese Strategie stärkt die AfD
Aus den ethnografischen Studien im „Kleinen“, das heißt in konkreten lokalen Zusammenhängen, ist auch abzuleiten, wie diese Arbeit aussehen kann, welche Strategien funktionieren und welche nicht – auch auf „großen“ politischen Bühnen. Es müssen Räume geschaffen werden: Räume zum Diskutieren, zum Denken und Räume zum Erfahren von demokratischer (Selbst-)Wirksamkeit. Das kostet Energie und Geld. Mit ihrer Kürzungspolitik im Bereich der politischen Bildung macht die Regierung gerade das Gegenteil.
Insbesondere das öffentliche Einstimmen von Olaf Scholz und der Ampel in die Forderungen nach Abschiebungen „im großen Stil“ ist (leider) das beste Beispiel dafür, wie die Arbeit gegen die Normalisierung von rechter Politik nicht funktioniert. Die Parteien scheinen schlecht beraten zu sein, denn es ist breiter sozialwissenschaftlicher Konsens, dass die Übernahme von Themen, die rechte Parteien wie die AfD setzen, die Wähler:innen nicht zurückholt. Im Gegenteil, diese Strategie stärkt die AfD, denn sie kann nun behaupten: Wir haben Abschiebungen seit Jahren gefordert – wir hatten also die ganze Zeit schon recht. Scholz spielt der AfD in die Hände.
Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Vor kurzem wurde das Thüringen-Projekt gestartet.
Julia Leser ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Koordinatorin des Forschungsprojektes “Challenging Populist Truth-Making in Europe”. Artikelbild: Gints Ivuskans
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