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Selbstbestimmt abtreiben – per Videochat

Aus dem Alltag dreier Menschen, die neue Wege gehen – Teil 2: Die Ärztin Alicia Baier etzt sich für einen anderen Umgang mit dem Thema Abtreibung ein.

„Schwangerschaftsabbrüche spielen in meinem Studium keine Rolle?! Ich war entsetzt. Als Medizinstudentin erwartete ich, das Thema in meinem Lehrplan wiederzufinden. Immerhin werden Abtreibungen fast so oft durchgeführt wie Blinddarmoperationen. Doch während meines gesamten Studiums an der Berliner Charité wurde nur wenige Minuten darüber gesprochen. Also gründete ich 2015 die erste deutsche Gruppe von Medical Students for Choice, um gemeinsam mit anderen Studierenden selbstorganisiert zu lernen, wie Schwangerschaftsabbrüche ablaufen.

2019 habe ich als Ärztin in einer Praxis in Gießen angefangen, Abbrüche durchzuführen. Und dabei gemerkt: Mit Abtreibungen wird immer noch rückständig umgegangen – in der Medizin, im Gesetzbuch und in der Gesellschaft. Obwohl grundsätzlich die Möglichkeit besteht, eine Schwangerschaft entweder operativ oder medikamentös zu beenden, ist die Versorgung nicht immer gewährleistet: Es mangelt an geschulten Mediziner:innen. 2021 haben Kolleg:innen und ich gemeinsam mit dem Netzwerk Doctors for Choice und dem Berliner Familienplanungszentrum BALANCE eine weitere Variante ins Leben gerufen: den telemedizinischen Abbruch. Das erste Projekt seiner Art in Deutschland, am Vorbild von England. Das Angebot ähnelt der medikamentösen Abtreibung, bei der zwei Tabletten eine Abbruchblutung auslösen. Allerdings müssen Patient:innen bei der herkömmlichen Methode bis zu viermal in die Praxis kommen, während sie bei der telemedizinischen Methode Zuhause bleiben können. Wir Mediziner:innen begleiten die Person dabei per Video, Telefon und Chat. Das erspart Betroffenen lange Anfahrtswege und Wartezeiten.

Ich werde manchmal gefragt, ob ich neben der medizinischen Beratung schon mal Seelsorge leisten musste. Tatsächlich habe ich viele verzweifelte Frauen erlebt. Aber nicht, weil sie mit ihrer Entscheidung gehadert haben – diese stand ja schon lange fest – sondern, weil sie unter enormem Zeitdruck standen. Sie hatten wochenlang nach Abtreibungspraxen gesucht. Insbesondere in Süddeutschland gestaltet sich das schwierig. Patient:innen aus Bayern sagten mir, dass ihre Gynäkolog:innen nicht einmal eine Schwangerschaft feststellen wollten, sofern Abtreibung eine Option war. Wenn sie dann zu uns kommen, ist ihre letzte Sorge oft nur noch, wie sie den Abbruch in der vorgegebenen Frist schaffen: bis Ende der neunten Schwangerschaftswoche. Pure Erleichterung, wenn sie dann hören, dass der telemedizinische Abbruch von Kontaktaufnahme bis Blutung nur etwa fünf Tage dauert.

Sobald uns alle notwendigen Dokumente vorliegen, verschicken wir die Medikamente per Post. Wir begleiten die Patient:innen bei der Einnahme der ersten Tablette per Video. Nach zwei Tagen nehmen sie im Beisein einer bekannten Person die zweite Tablette ein und können sich durchgängig per Chat an uns wenden. Das ist zeitintensiv. So kam es schon mal vor, dass ich nach Feierabend in der S-Bahn mit Patient:innen gechattet und Fragen beantwortet habe. Trotz Distanz hatte ich immer das Gefühl, ihnen näher zu sein als in einer Praxis, da ich sie in ihrer häuslichen, vertrauten Umgebung erlebt habe. Bis Ende 2022 habe ich telemedizinische Abbrüche begleitet, zur Zeit arbeite ich als angehende Gynäkologin in einem Krankenhaus. BALANCE führt das Angebot weiter. Inzwischen bietet auch die gynäkologische Praxis Nova in Berlin telemedizinische Abbrüche an. Pro Monat werden dort 10 bis 12 Personen betreut. Beide Anlaufstellen erhalten mehr Anfragen, als sie bewältigen können. Das zeigt deutlich: Die Situation für ungewollt Schwangere muss sich dringend verbessern!“

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