Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Wegen ihres Tinder-Profils bekam die Bundeswehr-Kommandeurin Anastasia Biefang einen Verweis. Seitdem wehrt sie sich gegen diese veraltete Sexualmoral, doch vor dem Bundesverwaltungsgericht scheiterte sie zunächst. Daraufhin zog sie vor das Karlsruher Verfassungsgericht.
Lea Beckmann ist Referentin für Grundsatzfragen bei der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung. Gemeinsam mit Michael Gladow vertritt sie Anastasia Biefang als Rechtsanwältin vor dem Bundesverfassungsgericht. Soraia Da Costa Batista ist Juristin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte und koordiniert dort strategische Klagen für gleiche Rechte und gegen Diskriminierung. Dieser Beitrag wurde zuerst in „Recht gegen rechts – Report 2024“ veröffentlicht, das am 28. Februar S. Fischer Verlag erscheint. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeber*innen. Alle Rechte vorbehalten.
„Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung und auf der Suche nach Sex. All genders welcome.“ Das Bild zeigt Anastasia Biefang in einem ärmellosen T-Shirt, entspannt zurückgelehnt, der Ehering an der rechten Hand deutlich erkennbar.
Es ist ein Profil wie wohl tausend andere auf der Online-Dating-Plattform Tinder. Aber Anastasia Biefang ist eine ranghohe Bundeswehrsoldatin: Als Oberstleutnant und Bataillonskommandeurin befehligt sie bei Veröffentlichung des Profils etwa 700 Menschen.
Sie ist wortgewandt und charismatisch, in ihrem Bataillon beliebt. Und sie ist offen trans und setzt sich nach innen wie nach außen prominent für Toleranz und Vielfalt in der Bundeswehr ein. Die Nutzungsbedingungen bei Tinder verbieten es, Screenshots von Profilen außerhalb der Plattform zu nutzen. Gleichwohl wird ein rechtswidriger Screenshot von Biefangs Profil bei der für Personal zuständigen Stelle der Bundeswehr eingereicht, vermutlich aus den Reihen der Truppe selbst.
Und so nimmt ein grundrechtliches Drama seinen Lauf, das tiefe Einblicke in einen Generationenkonflikt gibt und das Bundesverwaltungsgericht auf grundrechtlich abseitige Pfade bringt.
Bundesverwaltungsgericht wähnt sexuelle Disziplinlosigkeit
Biefangs Vorgesetzter nahm an ihrem Tinder-Profil Anstoß, leitete ein Disziplinarverfahren ein und erteilte ihr zu dessen Abschluss einen Verweis. Der Vorwurf: Mit ihrem Tinder-Profil habe sie gegen die soldatische Pflicht zu außerdienstlichem Wohlverhalten verstoßen. Biefang habe eine promiskuitive Lebensweise propagiert und sich einem unbegrenzten Personenkreis als Sexpartnerin angeboten, das wecke Zweifel an ihrer moralischen Integrität und verletze die mit ihrer Stellung als Bataillonskommandeurin verbundenen Integritätserwartungen.
Die Entwurfsfassung des Verweises sprach noch davon, dass von Biefang das Bild einer „NATO -Matratze“ entstehen könne. Dabei handelt es sich um eine verbreitete, abwertende Bezeichnung für (weibliche) Personen, die mit Soldaten Sex haben.
Biefang wehrte sich rechtlich: Längst sei Online-Dating auch in der Truppe verbreitet. Ihr Tinder-Profil sei Privatsache. Ihr Dating-Leben, ihr einvernehmlich nichtmonogames Beziehungsmodell und ihre sexuelle Orientierung seien grundrechtlich geschützt, insbesondere durch ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.
Bundeswehr und Gerichte sahen das unisono anders. Auch die letztinstanzliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Mai 2021 erachtete den Verweis im Ergebnis für rechtmäßig. Ihr Profil könne bei erstem Lesen den Eindruck einer „sexuellen Disziplinlosigkeit“ und eines „wahllosen Sexuallebens“ erwecken.
Das Dating-Profil sei damit geeignet, das Vertrauen darin zu beschädigen, dass sie als Disziplinarvorgesetzte sexistischen Äußerungen und sexuellen Belästigungen entgegentreten werde. Sie müsse Rücksicht walten lassen und ihr Tinder-Profil zurückhaltender formulieren.
Die Verkündung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts löste mediale Empörung aus – und führt den Profiltext, mit dem Biefang auf Kontaktsuche ging, zwei Jahre später zu überraschender Berühmtheit.
Aber was ist das eigentlich, diese außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht?
Anastasia Biefang wird ein Verstoß gegen ihre außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht vorgeworfen: Neben etlichen, deutlich konkreteren Dienstpflichten macht das Soldatengesetz Vorgaben an das Verhalten von Soldat*innen außerhalb des Dienstes.
So dürfen Soldat*innen auch in ihrer Freizeit und außerhalb der Kaserne nichts tun, das geeignet wäre, das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die ihre jeweilige dienstliche Stellung erfordern, ernsthaft zu beeinträchtigen (Paragraph 17 Absatz 2 Soldatengesetz).
Die ausgesprochen offene Formulierung der Norm ist durch die bisherige Rechtsprechung kaum systematisch konkretisiert worden. Hauptanwendungsfall der Norm ist die Missachtung gewichtiger Strafrechtsnormen durch Soldat*innen.
In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass auch nicht strafbares Verhalten gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verstoßen kann. An Staatsdiener*innen stelle der Staat eine erhöhte Integritätserwartung: Sie könnten ihre Aufgaben nur wahrnehmen, wenn sie von Untergebenen und Öffentlichkeit respektiert werden und als vertrauenswürdig gelten. Je höher die dienstliche Stellung, desto höher sei die erwartete Integrität.
So hat die Rechtsprechung beispielsweise unabhängig von ihrer Strafbarkeit die Kundgabe gewaltverherrlichender, rassistischer oder verfassungsfeindlicher Anschauungen als Verstoß gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht angesehen. Auch die sexuelle Selbstbestimmung spielt eine Rolle: Neben dem „Eindringen in die Ehe eines Kameraden“ haben Gerichte sexuelle Angebote gegenüber Untergebenen, sexuelle Belästigung von weiblichen Zivilbediensteten, die willentliche Veröffentlichung pornographischer Aufnahmen in einem Magazin sowie – wenig rühmlich – „homosexuelle Handlungen“ als Verstoß gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht eingestuft.
Online-Dating als Verstoß gegen soldatische Pflichten, wirklich?
Wie begründet also das Bundesverwaltungsgericht den Pflichtenverstoß? Soweit Bundeswehr und Vorinstanz davon ausgingen, das Tinder-Profil sei geeignet, das Ansehen der Bundeswehr zu schädigen (Alternative 1 von Paragraph 17 Absatz 2 Soldatengesetz), schiebt das Bundesverwaltungsgericht dem in Einklang mit bisheriger Rechtsprechung einen Riegel vor. Es handele sich erkennbar um ein privates Verhalten ohne Dienstbezug.
Dennoch sei der Verweis gerechtfertigt, weil Biefangs Tinder-Profil geeignet sei, Achtung und Vertrauen ernsthaft in Frage zu stellen, die ihre dienstliche Stellung erfordere (Alternative 2 von Paragraph 17 Absatz 2 Soldatengesetz).
Zwar unterstehe ihr Handeln dem grundrechtlichen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Auch lassen weder Tinder-Profiltext noch -bild bei sinngemäßer Auslegung den Schluss zu, dass die Soldatin sich oder andere zu reinen Sexobjekten degradiere (so noch die Vorinstanz). Eine reißerische Eigenwerbung sei auf Tinder üblich. Beweggrund der Annonce sei erkennbar der Wunsch nach einem einvernehmlichen sexuellen Erlebnis ohne partnerschaftliche Bindung.
Gleichwohl könne für einen unbeteiligten Dritten bei flüchtigem Lesen ein irriger Eindruck über Biefang entstehen. Der Profiltext sei geeignet, bei diesem Dritten „den falschen Eindruck zu erwecken, sie führe ein wahlloses Sexualleben oder strebe dies an“ und dass ihr das „ungehemmte Ausleben des Sexualtriebs besonders wichtig sei“.
„Auch wenn dies objektiv betrachtet bei Kenntnis der Motive der Soldatin und sachgemäßer Auslegung des Textes bei längerem Nachdenken nicht der Fall ist, vermittelt die Betonung der Lust, der Suche nach Sex und dem Nachklapp ‚all … welcome‘ beim ersten Durchlesen den falschen Anschein, es gehe um möglichst schnellen Sex mit Partnern gleich welchen Geschlechts“. Eine derartige Zuspitzung sei zur Grundrechtsausübung nicht notwendig gewesen.
Man meint, den Entscheidungsgründen den Schreck des Gerichts über die öffentliche Reaktion anzumerken. Die Figur des fiktiven Dritten ist der bisherigen Rechtsprechung zur soldatischen Wohlverhaltenspflicht fremd. Damit versucht das Gericht, sich nun aber selbst aus der Schusslinie zu bringen, und legt zunächst ausführlich dar, wie weit der grundrechtliche Schutz geht und wie die Äußerungen Biefangs richtigerweise zu verstehen seien. Um dann eine Pirouette zu drehen und nicht die eigene sorgfältige Auslegung, sondern die irrige Sicht eines flüchtig lesenden „unbeteiligten Dritten“ zum Maß für die Grenze der Freiheit Biefangs zu machen.
Die Konsequenz dieser Figur für den grundrechtlichen Schutz ist erschreckend. Sie leistet einer Ängstlichkeit Vorschub, die dem Geist des Grundgesetzes fremd ist. Wenn eine Äußerung wesentlicher Teil der Ausübung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ist und sich bei sorgfältiger Auslegung ergibt, dass sie die Integritätserwartung in die Amtsträgerin nicht erschüttern kann, dann muss dieses Abwägungsergebnis stehen. Und zwar auch für den Fall irriger Missverständnisse fahrlässiger Dritter.
Denn erst und gerade im Konfliktfall sind die Grundrechte das Bollwerk, das staatlichen Eingriffen Einhalt gebieten muss. Genau dieses Bollwerk aber hebelt das Bundesverwaltungsgericht hier aus.
Karlsruhe als letzte Bastion gegen eine veraltete Sexualmoral
Das Bundesverwaltungsgericht zeigt mit seiner Entscheidung eine Ignoranz gegenüber der Lebensrealität queerer und (gar nicht mal so) junger Menschen. Es stellt einen unvertretbaren Zusammenhang zwischen einvernehmlichem queerem Sexualleben und der Fähigkeit her, bei sexualisierten Verfehlungen einzuschreiten. Auch verkennt es die Bedeutung von Dating-Apps für die queere Community, für die das Flirten im öffentlichen Raum als Teil einer Minderheit nicht nur wenig zielführend ist, sondern auch gefährlich sein kann.
So ist der Vorschlag, Biefang müsse deshalb ihr Tinder-Profil zurückhaltender formulieren, nicht praktikabel. Wie soll nun eine pansexuelle Frau in einer nichtmonogamen Beziehung nach unverbindlichen Sexualkontakten suchen, wenn die Angabe ihrer sexuellen Orientierung als „sexuelle Wahllosigkeit“ interpretiert wird, wenn der Hinweis auf die offene Beziehung und Suche nach Sex als „ungehemmtes Ausleben des Sexualtriebs“ ausgelegt wird? Was soll dann bleiben vom hehren Schutz ihrer sexuellen Selbstbestimmung?
Die Entscheidung des Gerichts offenbart damit auch einen Generationenkonflikt zwischen den hohen Rängen der Bundeswehr und Bundesverwaltungsgericht und der in weiten Teilen jungen Truppe, die ganz selbstverständlich online datet. Ein Generationenkonflikt über ein verändertes Verständnis von Privatheit im Zeitalter der sozialen Medien und über eine gewandelte Sexualmoral.
Richtigerweise muss ein privates Handeln von Soldat*innen dienstbezogene Integritätsvorstellungen erschüttern, um disziplinarrechtlich geahndet werden zu können: Neben mittelschwerer Strafbarkeit kann dafür ein Maßstab sein, ob das Handeln in Zweifel stellt, dass sie für die verfassungsrechtliche Ordnung, für das Leitbild der Bundeswehr und für eine pluralistische und solidarische Gesellschaft einstehen.
Wen Soldat*innen lieben und was sie auf Dating-Plattformen suchen, geht ihren Dienstherrn jedenfalls nichts an.
Eine von der Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützte Verfassungsbeschwerde von Anastasia Biefang ist in Karlsruhe anhängig. Wieder einmal ist das Bundesverfassungsgericht die letzte Bastion, die die Entscheidung noch aufheben und den grundrechtlichen Schutz sexueller Selbstbestimmung grundsätzlich neu ausloten könnte.
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.
Zur Quelle wechseln
Zur CC-Lizenz für diesen Artikel
Author: Gastbeitrag