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CORRECTIV hat alle städtischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt gefragt, wie zugänglich ihre Rathäuser und Stadtratssitzungen für Menschen mit Behinderungen sind. Von 104 Gemeinden haben sich 69 beteiligt. Drei Städte haben die Beantwortung aktiv verweigert und 30 haben die Fragen nicht beantwortet.
Diese Recherche ist Teil des crossmedialen Projektes „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“ von CORRECTIV und MDR Sachsen-Anhalt zur Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt. Zur CrowdNewsroom-Umfrage und den mobilen Redaktionen in Dessau, Halberstadt und Tangermünde gibt es hier mehr Informationen.
Barrierefreiheit überwiegend für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen
Die Rathäuser der befragten Gemeinden sind zumindest für eine Form der Einschränkung überwiegend barrierefrei. So geben 38 Städte an, ihre Rathäuser seien für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen mit einem Aufzug und Rampen überall zugänglich. Siebzehn Städte erklären, Menschen mit Rollstuhl oder Gehhilfe hätten nur zu bestimmten Räumen oder im Erdgeschoss Zugang. Das Rathaus der Stadt Falkenstein (Harz) ist zum Beispiel nur im Erdgeschoss über eine Rampe erreichbar, zu den übrigen Fachämtern in den Obergeschossen führen Treppen. Ein Fünftel der Befragten teilen mit, dass ihr Rathaus für Rollstuhlfahrende nicht barrierefrei ist. Darunter beispielsweise auch Stendal, Sangerhausen und Nebra. In Nebra müssten sogar 23 Stufen überwunden werden, um das Büro für Stadtinformationen zu erreichen.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Stadtratssitzungen: In den städtischen Gemeinden sind diese ebenfalls überwiegend für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zugänglich oder können bei Bedarf in eine ebenerdige Räumlichkeit verlegt werden. Zehn Gemeinden geben an, keine barrierefreien Sitzungen einrichten zu können.
Was auf den ersten Blick recht positiv erscheint, zeigt jedoch auch: Viele Gemeinden beziehen sich beim Thema Barrierefreiheit nur auf Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Barrierefrei heißt demnach rollstuhlgerecht. CORRECTIV hat aber auch danach gefragt, wie zugänglich die Verwaltungen und Sitzungen für Menschen mit Sehbehinderungen und Hörbehinderungen sowie mit psychischen und kognitiven Einschränkungen sind. Die Antworten: Überwiegend sind dafür keine Lösungen vorhanden.
Was kann helfen, Barrieren in Gebäuden oder bei Stadtratssitzungen abzubauen?
Für Menschen mit psychischen oder kognitiven Behinderungen:
- einfach verständliche Beschilderung
- Dokumente und Webseite in einfacher oder leichter Sprache
- Rückzugsräume
Für blinde oder sehbehinderte Menschen:
- taktile Leitsysteme
- akustische Ansagen
- Beschriftung in Braille Schrift
Für Menschen mit Hörbehinderung
- Gebärdensprachdolmetscher
- optische Signale (bspw. beim Feueralarm)
- induktive-Höranlagen
Rund zwei Drittel der Gemeinden gehen in ihren Antworten nicht näher auf andere Behinderungen und Einschränkungen ein. Die restlichen Antworten zeugen von einem Flickenteppich an Maßnahmen oder Unwissenheit.
Für Menschen mit Seh- und Hörbehinderung wird nach Bedarf gehandelt
Lediglich die drei Gemeinden Haldensleben, Magdeburg und Weißenfels geben an, taktile Leitsysteme oder Beschilderung in Braille Schrift im Rathaus zu besitzen, um Menschen mit Sehbehinderungen einen Besuch zu ermöglichen. Die Schönebeck (Elbe) hat nur im Eingangsbereich entsprechende Orientierungshilfen. Für Menschen mit Hörbehinderungen gewährleisten ebenso nur fünf Gemeinden ein zugängliches Rathaus: Bitterfeld-Wolfen, Haldensleben, Naumburg, Weißenfels und Bismark (Altmark). Die meisten Befragten verweisen darauf, dass das Personal helfen könne oder die Möglichkeit bestehe, eine Assistenzperson mitzunehmen.
Stadtratssitzungen sind für blinde und sehbehinderte sowie für hörbehinderte Menschen in den meisten Fällen nicht zugänglich, wenn die Frage danach beantwortet wurde. Die Städte Dessau und Halberstadt geben aber beispielsweise an, Livestreams der Sitzungen anzubieten, bei denen Untertitel eingeblendet werden können. Zahlreiche Gemeinden erklären, man handle nach Bedarf.
Sowohl für die Zugänglichkeit der Rathäuser, als auch der Stadtratssitzungen für Menschen mit psychischen oder kognitiven Behinderungen können etwa 80 % der befragten Gemeinden keine Angaben machen. Einige wenige gehen näher darauf ein. So schreibt die Stadt Naumburg, man werde kommenden Monat einen Rückzugsraum im Rathaus für Menschen mit psychischen Einschränkungen einrichten und sensibilisiere die Mitarbeitenden dafür.
Behindertenrechtskonvention wird nur schleppend umgesetzt
Bereits seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Damit hat sich die Bundesrepublik verpflichtet, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben zu sichern. Dazu gehört auch, den Zugang zu Verwaltungsgebäuden und Rathäusern für Menschen mit Sehbehinderungen, Hörbehinderungen und anderen Einschränkungen zu gewährleisten. Wie die Recherchen von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT zeigen, machen dazu rund 50 von 69 Gemeinden in Sachsen-Anhalt keine Angabe, ob diese Menschen ihre Rathäuser und Verwaltungsgebäude selbständig besuchen können.
Aus den Antworten und Erklärungen der Kommunen geht hervor, dass oftmals die alten, denkmalgeschützten Rathäuser wenig Raum für adäquate Lösungen lassen. Demnach gibt beispielsweise die Stadt Gräfenhainichen an, ihr Rathaus weise „die klassischen Defizite eines alten Gebäudes auf“, bei den Sanierungsarbeiten sei aber seitlich ein barrierefreier Zugang eingerichtet worden, um direkt zum Bürgerservice zu gelangen. Innerhalb des Gebäudes müssten die Besucherinnen und Besucher dennoch eine Stufe überwinden, um in die Büros des Bürgerservice zu gelangen.
Stadtratssitzungen ermöglichen mit ihrer Einwohnerfragestunde einen wichtigen Zugang zu demokratischen Entscheidungen und bedeuten politische Teilhabe. Damit nicht über Menschen mit Behinderungen, sondern mit ihnen gesprochen wird, ist Barrierefreiheit hier unerlässlich. Wie die Recherchen von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT zeigen, sind Stadtratssitzungen in Sachsen-Anhalt bis auf wenige Ausnahmen nicht auf unterschiedliche Behinderungen ausgelegt.
Digitale Barrierefreiheit steht in den Gemeinden noch am Anfang
Laut EU-Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen sollten die Gemeinden ihre Websites bis Ende 2022 barrierefrei gestaltet haben. Dazu gehört beispielsweise, dass die Seite gut navigierbar ist, dass die Bilder Alternativtexte enthalten oder dass die Kontraste auf gute Sichtbarkeit eingestellt sind. Somit könnten auch Menschen mit verschiedenen Behinderungen wichtige Dienste online erledigen und haben Zugang zu allen Informationen. Für Sachsen-Anhalt wird dies im Behindertengleichstellungsgesetz Sachsen-Anhalt geregelt. Doch das Ziel der Richtlinie wurde trotz Übergangsfristen bis heute nicht erreicht.
CORRECTIV hat daher auch gefragt, inwiefern die Gemeinden in Sachsen-Anhalt aktuell relevante Dokumente in leichter oder einfacher Sprache anbieten und ob die Dokumente für Menschen mit Sehbehinderung zugänglich gemacht werden.
Mehr als zwei Drittel der Gemeinden bieten relevante Dokumente für Bürgerinnen und Bürger nicht in einfacher oder leichter Sprache an. Die 14 Gemeinden, die mit „ja“ oder „teilweise“ geantwortet haben, gaben oftmals an, dass sie nur einige wenige Dokumente übersetzt hätten oder nach Bedarf handelten. Aus vielen Antworten wird zudem deutlich, dass Unklarheit besteht, was einfache und leichte Sprache ausmacht.
Knapp zwei Drittel der Befragten stellen relevante Dokumente nicht explizit für Menschen mit Sehbeeinträchtigung zur Verfügung. Sieben Gemeinden verweisen mit einem „ja“ oder „teilweise“ auf ihre Webseite. Hier könnten bereits jetzt Formulare abgerufen und mit externen Vorleseprogrammen abgehört werden. Integrierte Assistenz-Tools, mit denen blinde oder sehbehinderte Menschen die Schriftgröße und Kontraste anpassen oder sich Texte vorlesen lassen können, werden bisher nur von wenigen Gemeinden angeboten. Magdeburg und Oranienburg-Wörlitz etwa bieten das Tool Eye‑Able® auf ihren Webseiten an.
Statt Fristen, die verschoben werden können, gibt es nun Überwachungsstellen auf Landesebene, die stichprobenartig die Umsetzung der europäischen Norm EN 301 549 prüften. Sie teilt ihre Ergebnisse mit den Gemeinden und gibt sie weiter an das Land, den Bund und die EU. Viele Gemeinden geben in der Umfrage von CORRECTIV an, sie seien gerade oder in naher Zukunft dabei, ihr digitales Angebot barrierefreier umzubauen. Falls sie diesen Plänen nicht nachkommen, müssen sie zum jetzigen Zeitpunkt allerdings auch keine Konsequenzen fürchten.
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Author: Justus von Daniels