Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Letztes Jahr veröffentlichte die Transparenzplattform FragDenStaat Gerichtsdokumente, über die das ganze Land sprach. Die Staatsanwaltschaft ermittelte daraufhin und hat jetzt Anklage gegen Chefredakteur Arne Semsrott erhoben. Das war geplant: Die Aktivisten nutzen den Fall strategisch, um für die Pressefreiheit zu kämpfen.
Es war eine Aktion mit Ansage und der jetzige Schritt kommt nicht überraschend. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat gegen Arne Semsrott, der als Chefredakteur bei FragDenStaat arbeitet, wegen der verbotenen Mitteilung über Gerichtsverhandlungen Anklage beim Landgericht Berlin erhoben.
Semsrott hatte auf der Recherche- und Transparenzplattform FragDenStaat.de im August 2023 über Ermittlungsmaßnahmen gegen die Letzte Generation und den unabhängigen Sender Radio Dreyeckland berichtet. Im Zuge dessen hatte er Gerichtsentscheidungen veröffentlicht, an denen es auch im Vorfeld schon ein reges öffentliches Interesse gab. Dafür stellte er insgesamt vier der Beschlüsse aus den breit diskutierten Strafverfahren im Wortlaut zur Verfügung. Das ist in Deutschland durch § 353d Nr. 3 StGB aber ohne Ausnahme verboten.
Laut der Gesellschaft für Freiheitsrechte, die Semsrott und FragDenStaat bei in der Sache juristisch unterstützt, erschwert das Gesetz die Berichterstattung über Strafverfahren und schränkt damit die Pressefreiheit unverhältnismäßig ein. Kernpunkt der Verteidigung ist, dass die Strafnorm verfassungswidrig sei und gegen die Pressefreiheit verstoße, heißt es in der Pressemitteilung.
„Skandal, dass der Gesetzgeber noch immer nicht die Norm gestrichen hat“
Semsrott selbst hält den Paragrafen für einen Ausdruck einer veralteten Vorstellung von Medienöffentlichkeit. „Es ist ein Skandal, dass der Gesetzgeber noch immer nicht die Norm gestrichen hat oder wenigstens eine Ausnahme zugunsten der Pressefreiheit eingeführt hat“, sagt Semsrott.
Dass die Staatsanwaltschaft Arne Semsrott nun anklagt, zeige die reale Gefahr, die Journalist*innen bei der Berichterstattung über Strafverfahren drohten, kritisiert Benjamin Lück, Jurist und Verfahrenskoordinator bei der GFF. „Dabei ist schlicht egal, wie groß das öffentliche Interesse an den Gerichtsbeschlüssen ist und ob überhaupt Nachteile für das Strafverfahren oder die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten drohen“, so Lück weiter.
Bei journalistischen Veröffentlichungen und vor allem von Originaldokumenten, die nicht veröffentlicht werden dürfen, gibt es immer eine Abwägung, ob das öffentliche Interesse die Veröffentlichung rechtfertigt. Doch das ausnahmslose strafbewehrte Veröffentlichungsverbot bei den Gerichtsakten verhindert diese Abwägung schon im Keim.
Laut GFF betonen sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als auch zuletzt der Bundesgerichtshof (BGH) in ihrer Rechtsprechung, dass eine Abwägung mit der Pressefreiheit stets erforderlich sei und die Strafbarkeit kein Automatismus sein dürfe. Der BGH zog demnach sogar die Verfassungsmäßigkeit der Norm konkret in Zweifel.
Die GFF hat deswegen zusammen mit weiteren Organisationen kürzlich beim Bundesministerium der Justiz (BMJ) eine Stellungnahme zum Reformbedarf im Strafgesetzbuch eingereicht, in der sie die Abschaffung dieser Strafnorm fordern.
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Author: Markus Reuter