Als die Polizei am 20. April 2022 eine illegale Waffe des Reichsbürgers Ingo K. einziehen will, fallen Schüsse. Das Buch „‘Reichsbürger‘ im Südwesten. Die Akte Ingo K. aus Bobstadt“ erzählt die Geschichte einer erschreckend schnellen Radikalisierung. Auszüge gewähren Einblicke in das Buch.
Im Zuge des SEK-Einsatzes ist das Wohnhaus in Brand geraten.
(Quelle: Nicholas Potter)
Neues Buch über die gefährliche Militanz von Reichsbürger*innen am Beispiel von Ingo K.: Über zwei Jahre ist es nun her, dass die polizeiliche Durchsuchung des militanten Reichsbürgers Ingo K. aus Bobstadt in einem Schusswechsel endete. Die Durchsuchung wurde veranlasst, um eine Waffe in Beschlag zu nehmen, für die Ingo K. keine Besitzerlaubnis mehr besaß. In seinem neuen Buch „Reichsbürger“ im Südwesten. Die Akte Ingo K. aus Bobstadt zeichnet Timo Büchner eindrucksvoll die Radikalisierung des Täters nach, beleuchtet rechtsextreme Allianzen zwischen Querdenker*innen und Reichsbürger*innen und verdeutlicht die gefährliche Militanz, die von dieser Szene ausgeht.
20. April 2022
Ein Sondereinsatzkommando (SEK) der baden-württembergischen Polizei rückt in den frühen Morgenstunden des 20. April 2022 aus, um einen Bauernhof in Bobstadt zu sichern. Nur 450 Menschen leben in dem Dorf im Main-Tauber-Kreis. Ingo K. ist einer von ihnen. Zusammen mit seinem Sohn wohnt er in einem Bauernhof am Dorfrand. Im Obergeschoss lebt die dreiköpfige Familie A., die Ingo K. die Erdgeschosswohnung mietfrei überlässt. Ingo K. hortet massenhaft Waffen in seiner Wohnung. Zu seiner Ausrüstung gehören auch Waffenzubehör wie Rückstoßdämpfer und Zielfernrohre sowie tausende Schuss Munition. Die Behörde wusste jedoch lediglich von einer einsatzfähigen Waffe. Im Juni 2021 erhielt er ein behördliches Schreiben über den Entzug seiner Waffenbesitzerlaubnis. Ingo K. sträubte sich gegen die Abgabe seiner Waffe, empfand sie als „Enteignung“ und ließ behördliche Fristen verstreichen. Nach einigem Hin und Her sowie vielen Möglichkeiten der freiwilligen Abgabe entschied die Polizei, die Waffe im Rahmen einer Durchsuchung einzuziehen. Aufgrund der erhöhten Gefährdungslage soll die Kriminalpolizei durch ein Kommando an Sondereinsatzkräften unterstützt werden.
Als die Polizist*innen schließlich am 20. April 2022 ausrücken, versuchen sie, über Lautsprecherdurchsagen, Blaulicht und Martinshorn auf sich aufmerksam zu machen. Die Bewohner*innen des Hofes sollen die Einsatzkräfte auch als solche erkennen. Und dennoch kommt es zur Eskalation: Aus dem Inneren des Gebäudes wird auf einen SEK-Beamten geschossen. Der Beamte hatte begonnen, mit einer Flex den Grundstückszaun aufzuschneiden, damit die Einsatzkräfte Zugang zum Hof erhalten. Zwei Schüsse treffen seinen Oberschenkel. Während der Verletzte in ein Fahrzeug getragen und dort notdürftig versorgt wird, folgen etliche weitere Schüsse, auf die wiederum die SEK-Beamt*innen mit Schüssen reagieren. Auch die auf dem Gelände verteilt stehenden Fahrzeuge der Polizei werden beschossen. Es kommt einem Wunder gleich, dass alle Anwesenden den Einsatz überleben. Der Vermieter Heiko A. und seine Frau Bianca A. verlassen kurze Zeit später zusammen mit dem Sohn von Ingo K. das Haus. Ihr eigener Sohn und Ingo K. bleiben zunächst im Gebäude und können erst zwei Stunden nach Einsatzbeginn festgenommen werden.
Prozess deckt Radikalisierung des Reichsbürgers auf
33 Prozesstage sind für die Verurteilung von Ingo K. vorgesehen. Der Gerichtsprozess deckt die Radikalisierung des Reichsbürgers auf. 2015 begann seine Politisierung. Er ging gegen die Asyl- und Migrationspolitik auf die Straße und wohnte zahlreichen Demonstrationen bei, auf denen der sofortige Aufnahmestopp von Geflüchteten eingefordert wurde. Die Proteste brachten verschiedenste gesellschaftliche Gruppe zusammen: „Besorgte Bürger*innen“ demonstrieren neben strammen Neonazis, AfD-Politiker*innen und Reichsbürger*innen. Und Ingo K. war mitten unter ihnen. Während der COVID-19 Pandemie radikalisierten sich Teile dieser Allianz weiter. Eine neue gesellschaftliche Gruppe kam hinzu: die Querdenken-Bewegung. Auch Ingo K. rutschte immer mehr in Verschwörungserzählungen ab. Wie so vielen andere radikalisierte sich Ingo K. vor allem auf Telegram.
Nachbar*innen warnte er vor Würmern in FFP2-Masken und den Kondensstreifen von Flugzeugen, sogenannten Chemtrails. Auch andere Verschwörungsmythen verbreitete er in seinem Umfeld: Einem Bekannten erzählte er von geheimen Bunkern in Ostdeutschland, in denen arabische Geflüchtete leben sollen. Einer Arbeitskollegin versuchte er einzureden, dass „die Juden“ Kinder schlachten und ihr Fleisch bei McDonalds verkaufen würden. Er knüpft damit an die bekannte antisemitische Ritualmordlegende an.
Ingo K. zweifelte außerdem die Legitimation staatlicher Institutionen an. Er war davon überzeugt, dass Deutschland weder selbstbestimmt noch souverän sei. Er glaubte an die „BRD-GmbH“ und hinterfragt die Gültigkeit des Grundgesetzes. Stattdessen gelte – rein völkerrechtlich – noch immer das Reichs- und Staatsgesetz aus dem Jahr 1913, schrieb Ingo K. in mehreren Briefen an staatliche Einrichtungen. Reichsbürger*innen nutzen immer wieder solche Schreiben, um die Arbeit von Verwaltungsbehörden zu behindern.
Kein Einzeltäter
Im Prozess konnte zwar festgestellt werden, dass Ks. Vermieter Heiko A. maßgeblich an seiner Radikalisierung beteiligt war und auch er nach einem autarken Leben außerhalb ‘des Systems’ strebte. Heiko A. unterstützte Ingo K. beim Verfassen von Schreiben an Behörden und nutzte Codes der Reichsbürger-Ideologie. Die Schüsse am 22. April 2022 sind jedoch lediglich auf Ingo K. zurückzuführen. Und dennoch: Ingo Ks Radikalisierung fand nicht im luftleeren Raum statt.
In acht Kapitel beschreibt der Autor Timo Büchner, wie es zu den Schüssen in Bobstadt kommen konnte. Er skizziert dafür nicht nur das Leben von Ingo K., sondern ordnet die Tat auch in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext ein. Er zeigt, wie erfolgreich es Reichsbürger*innen gelingt, ihre Ideologie durch Bezüge auf das Germanentum, die Selbstdarstellung als Opfer oder auch Black-Metal-Konzerte in bürgerlichen Kreisen zu verharmlosen und zu verbreiten. Im zweiten Teil des Buches wird jeder einzelne der 33 Prozesstag am Oberlandesgericht Stuttgart nacherzählt. Das Buch macht am Beispiel von Ingo K. aus Bobstadt deutlich, wie gefährlich Reichsbürger*innen sind. Nachrichten über ihre Umsturzpläne und gefundene Waffenarsenale häufen sich. Sie zeigen: Die Szene ist vorbereitet, die Gefahr, die von ihr ausgeht, ist real. Das spiegeln auch die jüngsten Aktivitäten der Patriotischen Union rund um Prinz Reuß, die in Teilen momentan vor Gericht steht. Trotzdem wird die Militanz und die staats-zerstörerische Gefahr, die von Reichsbürger*innen ausgeht, in Deutschland von vielen unterschätzt. Reichsbürger*innen werden als „Systemaussteiger*innen“ oder „Selbstversorger*innen“ bagatellisiert und kommen vor Gericht oft mit milden Strafen davon. Das Buch „Reichsbürger“ im Südwesten. Die Akte Ingo K. aus Bobstadt zeigt, was für fatale Folgen das haben kann. Die Prozessbeobachtung wurde durch eine Projektförderung der Amadeu Antonio Stiftung ermöglicht.