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Nach dem 7. Oktober: Wie Rassismus & Antisemitismus gleichzeitig bekämpfen?

Gastbeitrag Monty Ott

Das erste Mal abgefasst habe ich diesen Text nur wenige Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel. Er atmet die Erfahrung und Verunsicherung, von der viele Menschen in der Folge des Angriffes geprägt waren. Es war ein Versuch, die vielfältigen Entwicklungen, die im Schatten des 7. Oktober auftraten, einzuordnen. Es war mein Versuch, der “fast unlösbaren Aufgabe” gerecht zu werden, um eine Überlegung Theodor W. Adornos aufzunehmen, mich “weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht […] dumm machen zu lassen”. Das Zitat stammt aus Adornos „Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben“.

Und die Ohnmacht breitete sich zeitgleich mit den Videos, Fotos und Berichten aus, die die grausamen Ereignisse zunehmend in ihrem gesamten Ausmaß deutlich machten. Ereignisse, die eine neue Qualität angenommen haben, wie Deborah Hartmann und Tobias Ebbrecht-Hartmann betonen: Eine neue “Qualität genozidaler Gewalt im 21. Jahrhundert”, die es verunmöglicht, “einfach weiterzumachen”. In diesem Sinne sollte dieser Text auch nicht als ein “Weiter-so” in einer ewigen Abfolge gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um Antisemitismus und Rassismus gelesen werden. Er sollte als Versuch verstanden werden, ein wenig Struktur und Halt zu bekommen, während sich einstige gesellschaftliche Sicherheiten auflösen.

Vom Widerspruch getrieben

Dieser Text ist von einem Widerspruch angetrieben. Mir fehlen die Worte und doch schreibe ich sie nieder. Denn mein Geist biegt sich unter der unvorstellbaren Grausamkeit dessen, was ich immer noch nicht verarbeiten kann. Nicht einmal vier Wochen nachdem es geschehen ist. In den vergangenen Jahren hat die Dichte an Ereignissen, die unsere Welt in ein vorher und ein nachher geteilt haben, auf erschreckende Weise zugenommen.

Eine nicht vollständige Liste: Die rechtsterroristischen Anschläge auf die Synagoge und den KiezDöner in Halle 2019 und 2020 in Hanau, die Corona-Pandemie seit 2020, der russische Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine seit dem 24. Februar 2022 – und jetzt der 7. Oktober 2023. Welche Rolle russische Desinformation mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt wurde auch im Kontext des Hamas-Terrors vom 7. Oktober deutlich.

Krieg, Gewalt, Vergewaltigungen, Verschleppungen und Massaker wurden in ihrer Regelmäßigkeit ein schrecklicher Teil unseres (digitalen) Alltags, der uns auf unterschiedliche Weise berührt. Und es ist eine Binsenweisheit, dass all das unsere Gesellschaft verändert hat. All die prägenden Ereignisse stehen im engen Zusammenhang mit Antisemitismus und Rassismus. Antisemitisch-rassistische Verschwörungserzählungen motivierten die Rechtsterroristen von Halle und Hanau.

Hanau, Corona, Ukraine

Ähnliche Erzählungen gepaart mit gezielter Desinformation blühten auch während der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskriegs auf und eine krude Mischung aus antisemitischer Verschwörungsideologie, Islamismus und Erlösungsnationalismus ist die Triebfeder der palästinensisch-islamistischen Terrororganisation Hamas, wie auch ihrer hiesigen Kollaborateur*innen. 

Der Einsatzbefehl – so viele Jüdinnen*Juden bzw. alle, die sie für jüdisch halten, wie möglich zu ermorden oder zu entführen – und das gnadenlose Massakrieren von Kindern und Babies lässt sich nur begreifen, wenn man den Antisemitismus verstanden hat. In dieser Hinsicht existiert tatsächlich eine Parallele zwischen der nationalsozialistischen Ideologie und dem erlösungsantisemitischen Nationalismus der Hamas: Ihr Hauptziel ist es, jüdisches Leben gänzlich zu vernichten, egal welche Verluste dafür in Kauf genommen werden müssen.

Das Morden ist unterschiedslos: In dieser Perspektive gibt es keinen Unterschied zwischen Soldat*in und Zivilist*in. “Erlösung” im Dies- oder Jenseits wird fest damit verbunden. Und noch eine Binsenweisheit: Vergleichen ist ungleich Gleichsetzen. Ähnlichkeiten können beim Einordnen helfen, beim Verstehen helfen. Aber historische Gleichsetzungen verwischen und stehen allzu oft dem eigentlichen Begreifen entgegen.

Keine Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung

Als die Terroristen am Morgen des 7.Oktobers die gesicherten Grenzanlagen des Gazastreifens zu Israel überschritten, waren sie davon getrieben, zu morden – in vollem Bewusstsein darüber, was die israelischen Rettungs- und Gegenaktionen für die eigene Bevölkerung im Gazastreifen bedeuten. Sie haben hunderte Kilometer an Terrortunneln angelegt, in denen sie Waffen und Ausrüstung verstecken. Als eine israelische Rakete einen solchen Tunnel im Geflüchtetenlager Jabalya traf, tat sich der Boden auf und verschluckte ganze Häuser.

Die Bedürfnisse und Leben der Bevölkerung im von der Hamas unterjochten palästinensischen Gebiet müssen hinter der mörderischen Ideologie zurückstehen, jüdisches Leben zu vernichten – nicht nur im einzigen jüdischen Staat, sondern weltweit. Und hier kommen wir zu Ähnlichkeiten: Auch das nationalsozialistische Deutschland betrieb einen Vernichtungskrieg. Und als es dabei war, diesen zu verlieren, brachte es weiterhin immense Ressourcen dafür auf, Jüdinnen*Juden zu ermorden.

Der Kern antisemitischen Denkens

Diesen Kern antisemitischen Denkens benannte der Psychoanalytiker Ernst Simmel 1946, als er schrieb, dass Antisemit*innen Jüdinnen*Juden verfolgen, weil sie sich einbilden, “vom Juden verfolgt zu werden“. Die von mir hier gewählte Betrachtungsweise kann allerdings immer nur Teile des Krieges zwischen Israel und der Hamas erklären. Sie hilft, den Antisemitismus zu begreifen. Dieser stellt allerdings nur eine Triebfeder der gegenwärtigen Situation dar. Sie erklärt den Wahn, der die islamistischen Terroristen dazu motivierte, dahinzumorden. Und sie erklärt, warum Menschen auch hier in Europa in Massen auf die Straße gehen oder mit Süßigkeiten feiern, dass friedlich feiernde Festival-Besucher*innen aus aller Welt massakriert, vergewaltigt und verschleppt wurden. 

Dass Menschen den Antisemitismus nicht begreifen wollen oder können, hilft auch zu erklären, warum sich viele so schwer damit tun, klare Worte zu finden. Es hilft zu erklären, warum Menschen schweigen, während die Zahl antisemitischer Gewalttaten tagtäglich explodiert. Es hilft zu erklären, warum Menschen ihre jüdische Identität verstecken müssen, während ihre vermeintlichen Verbündeten den Terror der Hamas als „antikolonialen Befreiungskampf“ verklären. Und es hilft zu erklären, warum intersektionale Denker*innen oder Gruppen nicht in der Lage sind, Jüdinnen*Juden in ihren Aktivismus einzubeziehen. Es hilft zu erklären, warum „Free Palestine“ zu Chiffre, zum kulturellen Code werden kann, der Befreiung bedeutet und gleichzeitig das Leid, der Mord an, die Angst von Jüdinnen*Juden ausgeblendet wird.

Reaktionen auf den Terror

Die Betrachtung dieser Ereignisse ist in Deutschland tatsächlich in einen scheinbar unauflöslichen Zusammenhang verflochten. Neben der großen Solidarität, auch befördert durch das schiere Ausmaß des Schreckens, mehrten sich schon nach einigen Tagen der Antisemitismus und Rassismus. So war zu beobachten, wie sich Antisemitismus aus intellektuellen Zirkeln in den sozialen Medien breit machte. Künstler*innen, Kulturschaffende und Akademiker*innen – die sich an Intellektuellen außerhalb des deutschsprachigen Raums orientierten – fabulierten über den angeblich tapferen Widerstand islamistischer Terroristen. Auch Greta Thunberg, das Idol der internationalen Klimabewegung fiel in diesen Tenor ein.

Im poetischen Wortschwall wurde erklärt, warum die unvorstellbaren Taten der Hamas doch irgendwie nachvollziehbar seien, sie im Kontext betrachtet werden müssen oder gar als „Akt des Widerstandes“ gedeutet werden könnten. In dessen Windschatten zogen die radikalen, verherrlichenden Positionierungen aus muslimischen und islamistischen Communities ihre Bahnen. Das war nicht nur bei den zahlreichen anti-israelischen Demos zu beobachten, sondern auch auf TikTok oder Instagram. Insbesondere unter Israel-solidarischen Postings sammelten sich massenweise antisemitische Reaktionen, die noch einmal auf das Potenzial antisemitischen Denkens in muslimischen Communities hinweisen, dass das Berliner Büro des American Jewish Committee bereits 2022 in seiner Repräsentativbefragung festgestellt hatte.

Prinzipiell nachvollziehbare Forderungen

Freilich entdeckten nun auch viele ihre vermeintliche humanitäre Ader wieder, nachdem sie diese während der Massaker der Hamas verloren hatten. In vielen linken und progressiven Gruppierungen verbreitete sich die Forderung nach einem Waffenstillstand, nach diplomatischen und politischen Lösungen. Prinzipiell nachvollziehbare Forderungen, aber auch hier wieder einmal ein katastrophales Unverständnis, dass der Verhandlungspartner für Israel kein souveräner Staat, sondern eine vom eliminatorischen Antisemitismus getriebene Terrororganisation ist, die 240 Geiseln in ihrer Gewalt hat. Und was nach dem Waffenstillstand? Warten auf das nächste Massaker? 

Auch die neonazistische Rechte stimmte in den anti-israelischen Chor mit ein: An einer Hausfassade im „Nazi-Kiez“ in Dortmund-Dorstfeld hisste die neonazistische Partei “Die Heimat” (ehemals “Die Rechte”) eine Palästina Flagge und ein blau-weißes Banner mit der Aufschrift “Israel ist unser Unglück”, das an die Aussage des Antisemiten und Historikers Wilhelm von Treitschke, “Die Juden sind unser Unglück” angelehnt war. 

Instrumentalisierung 

Und auch rassistische Positionen waren ebenso schnell zu vernehmen, was vor dem Hintergrund einer in den vergangenen Monaten wieder aufgeflammten, migrationsfeindlichen Stimmung wenig verwunderlich erscheint. So waren schnell Stimmen zu hören, die jene Ereignisse zum Anlass nahmen, um für Menschen, die als “migrantisch” oder “muslimisch” markiert wurden, Ausweisungen und Abschiebungen zu fordern – ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass viele der Teilnehmer*innen antiisraelischer Demonstrationen bereits in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland lebten sowie durch die Bildungsinstitutionen dieses Landes gegangen sind. Auch die Forderung nach einem Israel-Bekenntnis bei Einbürgerung und Asyl wurde wieder aufgewärmt, freilich ohne zu erklären, wie eine israel-solidarische Haltung überprüft werden sollte.

Ohnehin geht diese Argumentation daran vorbei, Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem ernst zu nehmen. Sie beflügelt lediglich die Vorstellung, dass der Antisemitismus importiert werde, was hinsichtlich etlicher sozialwissenschaftlicher Studien, die in den vergangenen Jahrzehnten einen festen Kern antisemitischen Denkens bei 20 bis 30 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen, ebenso fragwürdig erscheint, wie angesichts der Tatsache, dass die markierte Menschengruppe zum Teil aus Personen besteht, die bereits in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben.

Hierzu passt die Feststellung des Antisemitismusforschers Samuel Salzborn, dass “über die Jahrzehnte hinweg aus der Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus” eine “Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik geworden” sei. Ebenfalls gibt es diejenigen in Deutschland, die versuchen den Hamas-Terror mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen: Die Hamas wird zu den ’neuen Nazis’ und Deutschland befindet sich im Widerstand dagegen. Eine Verkürzung, die die historische Schuld aus der Shoa abmildern soll. Das zunehmende Potenzial extrem rechter Ideologie in der deutschen Gesellschaft, wie zuletzt von der “Mitte”-Studie aufgezeigt wurde, sollte dahingehend nicht unerwähnt bleiben. 

Was tun? 

Auch diese Krise hat wieder einmal zur Folge, dass sowohl Antisemitismus als auch Rassismus in Deutschland weiter ansteigen werden. Die einfache Antwort, die manche in den vergangenen Tagen aus dem Hut zaubern wollten, kann es allerdings nicht geben. Vielmehr muss im Rahmen geltender Gesetze strafrechtlich relevanter Antisemitismus sanktioniert werden. Es muss das Monitoring ausgebaut werden, genauso wie die Beratung derjenigen, die von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind. Die Prävention in Form politischer Bildung muss in der Breite unterstützt werden. Die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte haben sich immer wieder in Gewalt manifestiert. 

Es muss eine klare Position gegen Antisemitismus und Rassismus geben, um der extrem rechten Mobilisierung den Boden zu entziehen. Genauso bedarf es einer klaren Haltung und Empathie. Israel braucht nun die Unterstützung dabei, die entführten Geiseln zu befreien. Genauso ist es zwingend notwendig, dass sich nichtjüdische Menschen damit beschäftigen, welches Trauma die genozidale Botschaft der Hamas nicht nur für Israel sondern für Jüdinnen*Juden weltweit hervorgebracht hat. Nicht minder empathisch sollte man nun gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung sein, die seit fast zwanzig Jahren von der Hamas im Gazastreifen drangsaliert und nun als menschliches Schutzschild missbraucht wird.

Zum Autor

Monty Ott ist Politik- und Religionswissenschaftler und politischer Schriftsteller. Er publiziert zu tagespolitischen Themen und beschäftigt sich in seinen Beiträgen mit Antisemitismus, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Queerness. Anfang 2023 erschien sein Essay „Inzwischen ist es kalt geworden“ über Antisemitismus in linken Bewegungen in der ZEIT. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich Monty Ott in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. 

Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Ruben Gerczikow verfasster Reportageband „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ – Junge jüdische Politik in Deutschland im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen. Für ihren Text „Hat Halle uns verändert? Ein Manifest mutiger, widerständiger Jüdischkeit“ wurden sie beim Schreibwettbewerb L’Chaim der Initiative Kulturelle Integration ausgezeichnet.

Twitter: @montyott, Instagram: @der_wandelnde_widerspruch

Artikelbild: FooTToo

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