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Mythos Pull-Faktor zerstört: Mehr Härte führt nicht zu weniger Flüchtenden

In Deutschland setzt sich immer mehr die unwissenschaftliche Ansicht durch, dass Flucht nach Deutschland dadurch begrenzt werden könnte, dass man die Situation für ankommende Schutzsuchende so unangenehm und unmenschlich wie möglich macht, als Abschreckung quasi. Diese „wohltemperierte Grausamkeit“ (nach Faschist Höcke) soll ein notwendiges Übel sein, doch die Wissenschaft zeigt: Weder ist derartige Behandlung moralisch, nocht oft rechtens, sie ist auch völlig wirkungslos. Der wissenschaftlich widerlegte Mythos von einem „Pull-Faktor“ führt nur dazu, dass wir grausam zu Schutzsuchenden sind. Es kommen dadurch nicht weniger. Solange wir in Deutschland nicht mehr Sicherheit und Wohlstand haben als die Krisen- und Kriegsgebiete, aus denen Menschen fliehen, haben sie es hier immer noch besser und kann man sie nicht „abschrecken“. Und unsere Sicherheit und unseren Wohlstand abschaffen ist ja auch nicht die Lösung. Was der Stand der Wissenschaft über diesen Irrweg sagt.

In der allgegenwärtigen Debatte darüber, wie Flucht nach Deutschland begrenzt werden soll, unterstützen sogar Teile der Grünen inzwischen unwissenschaftliche Positionen. Kürzungen von Sozialleistungen und Kriminalisierung von Seenotrettung sind nur zwei der im sogenannten „Rückführungsverbesserungsgesetz„, ein Gesetzesvorhaben des Innenministeriums, vorgeschlagenen Instrumente. Dumm nur: Es bringt nicht mal etwas. Fakt ist, dass beide Vorschläge schlichtweg Nonsens sind. Selbst wenn wir Sozialleistungen kürzen und Seenotrettung weiter kriminalisieren, kommen weiterhin Schutzsuchende nach Deutschland. Denn sogenannte „Pull-Faktoren“ werden in der Migrationswissenschaft schon längst als veraltet und zu vereinfachend eingestuft. Diverse Studien beweisen das. Und selbst die wenigen Studien, die einen Zusammenhang zwischen Sozialleistungen und Flucht herstellen wollen, sind auf Deutschland nicht anwendbar. Lies diese Analyse und lerne, wie grausame Asyl-Politik nicht nur unmenschlich, sondern auch sinnlos ist.

Mehr härte sorgt nicht für weniger Flüchtende

Klar: Wenn wir die ganze „Pull-Faktoren-Debatte“ mal außerhalb der realpolitischen Debatte betrachten, ist auch schnell klar, wie menschenfeindlich sie im Grunde ist. Menschen fliehen nach Deutschland, weil sie vor Krieg, Hunger, Verfolgung Schutz suchen – nicht, weil sie Geld machen wollen. Da wir nun mal eine funktionierende Demokratie, einen Rechts- und Wohlfahrtsstaat haben, kommen Menschen zu uns, neben anderen Faktoren wie bereits bestehenden sozialen Kontakten. Denken wir den Pull-Mythos konsequent zu Ende, müssten wir unseren Wohlstand und unsere Sicherheit abschaffen, um keine „Anreize“ zu setzen. Blödsinn.

Du merkst schon: Wenn beispielsweise Friedrich Merz Lügen über die Zahnbehandlungen von Schutzsuchende verbreitet, ist es ihm egal, dass er Nonsens redet. Ihm geht es darum, Emotionen zu wecken und auf widerliche Art & Weise Menschen gegeneinander auszuspielen. Die rechtsextreme AfD dankt. Genau deswegen sind wir hier: wir wollen wieder auf den Boden der Fakten zurückkehren und dir zeigen, was die Wissenschaft zur aktuellen Debatte sagt. Denn von vielen Politiker:innen im Bundestag können wir das leider derzeit nicht erwarten.

push/pull-faktor-theorie ist veraltet und zu vereinfachend

Der Begriff „Pull-Faktor“ geht zurück auf eine Theorie des US-amerikanischen Soziologen Everett S. Lee aus dem Jahr 1966, der sogenannten Theorie der Push/Pull-Faktoren. Du siehst schon an der Jahreszahl, wie alt die Theorie ist. Der Theorie zufolge ist Flucht ein Prozess, bei dem Menschen aus ihrem Heimatort „weggedrückt“ (engl.: to push) und/oder von einem anderen Gebiet „angezogen“ (engl.: to pull) werden. Die konkreten Gründe werden als Push- und Pull-Faktoren bezeichnet. Push-Faktoren sind also Fluchtursachen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit oder Hunger. Pull-Faktoren im Zielland können Sozialleistungen, Rechtssicherheit und eine starke Wirtschaft sein.

Zum Konsens der aktuellen Migrationsforschung zählt, dass diese Theorie viele Migrationsphänomene bestenfalls unvollständig erklären kann und auf empirischer Ebene vielfach widerlegt ist. Sie ignoriert nicht nur nichtökonomische Faktoren von Migrationsdynamiken, sondern missachtet beispielsweise die Rolle von Netzwerken, Staaten und Institutionen im Migrationsprozess.

Auch das Menschenbild hinter der Push/Pull-Theorie ist viel zu vereinfachend und veraltet. Ein Geflüchteter wird demnach als passiver Akteur zwischen den Einflüssen der Pull- oder Push-Faktoren gesehen. Jemand, der rein aus wirtschaftlichen Motiven getrieben blind dorthin wandert, wo mehr Geld zu erwarten ist. Glücklickerweise gibt es in der neueren Migrationsforschung viele alternative Modelle, die Fluchtbewegungen und Ursachen besser erklären. So zum Beispiel der Bestrebungs- und Befähigungsansatz. Dieser versucht, schwer quantifizierbare Faktoren in der Migrationsforschung wie Ungleichheit, Macht und die Rolle von Staaten angemessen zu erfassen. Schutzsuchende werden nicht als passive Opfer, sondern als Akteure mit Selbstwirksamkeit dargestellt.

Blöderweise ist jedoch die Nachricht, wie outdated die Push/Pull-Theorie mittlerweile ist, noch nicht in der Politik angekommen. Im Gegenteil, aus Angst vor der AfD wird deren rechtsextremes Weltbild einfach übernommen. Allen voran die CSU, CDU und FDP diskutieren auch diese Tage wieder über den sogenannten Sozialleistungs-„Magneten“. Doch auch die SPD und Teile der Grünen sind dazu übergegangen, die AfD gewinnen zu lassen. Die Scheinlogik dahinter: Weniger Sozialleistungen = weniger Schutzsuchende in Deutschland. Pseudowissenschaftlicher Unsinn.

Der mythos un den Pull-Faktor „sozialleistungen“

Grundsätzlich ist es mehr als fraglich, bei einem komplexen Zusammenspiel von verschiedensten Faktoren, die Fluchtbewegungen bedingen, davon auszugegen, dass ein isoliert betrachteter Faktor wie Sozialleistungen, zu einer Fluchtentscheidung führt. Nicht nur Friedrich Merz scheint noch nicht begriffen zu haben, dass jede Fluchtentscheidung genauso individuell ist wie der Mensch, der diese trifft. Aber okay, lassen wir uns auf die Debatte ein und betrachten zunächst einmal, was wissenschaftlich gesehen gegen den Pull-Mythos Sozialleistungen spricht.

warum deutschland „beliebt“ ist

Dafür müssen wir zunächst zwischen verschiedenen Etappen der Fluchtentscheidung unterscheiden. Der Entscheidung, beispielsweise nach Deutschland zu kommen, geht überhaupt erst die Entscheidung voraus, das Heimatland zu verlassen. Diese Entscheidung kann durch sehr unvorhersehbare Auslöser fallen – beispielsweise durch den Ausbruch eines Bürgerkriegs oder ein Erdbeben. Das Narrativ, Schutzusuchende würden kalkulieren, nach Deutschland zu kommen, weil sie sich ach so tolle Sozialleistungen erhoffen, ist in den allermeisten Fällen Quatsch. Auch die Grundannahme, „alle würden nach Deutschland kommen wollen“, ist irreführend. Niemand WILL fliehen, weil es so viel Spaß macht, ein Schutzsuchender zu sein. Im Gegenteil: Viele Menschen, die eigentlich beispielsweise verfolgt werden, können aus verschiedensten Gründen gar nicht erst fliehen. Von denjenigen, die es dann schaffen zu fliehen, bleiben die meisten im eigenen Land – sogenannte Binnenflüchtlinge-, oder fliehen in Nachbarländer.

Quelle

All diese Realitäten müssen wir uns bewusst machen, bevor wir eine sinnvolle Diskussion darüber führen können, ob Menschen wirklich wegen Sozialleistungen nach Deutschland kommen. Haben es Menschen dann nach Europa geschafft, oftmals über die wohl gefährlichsten Fluchtroute der Welt, das Mittelmeer, so spielen laut Expert:innen vor allem Soziale Netzwerke und Sprache die größere Rolle bei der Entscheidung, in welches europäisches Land viele Schutzsuchende gehen.

Dass Deutschland unter den europäischen Ländern ein „beliebtes“ Einwanderungsland ist, kann man aber auch anhand weiterer Faktoren erklären. Es ist die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa, es ist demokratisch, rechtsstaatlich, sehr sicher und mit einem guten Bildungssystem für alle. Konsens unter vielen führenden Migrationsforscher:innen ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Sozialleistungen und dem Zustrom von Schutzsuchende geben könne. Dieser wäre aber, wenn dem so sei, ein Faktor unter vielen. Auch hängt dies davon ab, wie hoch die Sozialleistungen ausfallen würden und -wenn sie gekürzt werden-, um wie viel. Würden wir beispielsweise 3000 Euro monatlich an Asylsuchende stellen und diesen Betrag auf einmal halbieren, könnten Effekte stärker ausfallen. Aber sowas fordert auch niemand.

die debatte über sozialleistungen führt an der realität vorbei

Davon ist die Realität in Deutschland jedoch weit entfernt. Anders als oftmals in Debatten behauptet, bekommen Asylsuchende natrürlich deutlich weniger als Bürgergeldempfänger in Deutschland. Alleinstehende Asylsuchende haben Anspruch auf 410 Euro pro Monat. Menschen, die in einer Partnerschaft leben, bekommen weniger. Kinder bekommen je nach Alter zwischen 278 und 364 Euro. Nicht alle alleinstehenden Asylsuchende erhalten jedoch die vollen 410 Euro. Leben sie in sogenannten AnkER-Zentren, werden Sachleistungen wie Essen oder Kleidung gestellt und sie erhalten im Durchschnitt nur zwischen 117 und 182 Euro. Würdest du dafür dein Land verlassen?

Zu sagen, dass die Geldleistungen im Asylsystem dazu führen, dass mehr Menschen nach Deutschland kommen wollen, ist etwa so, als ob Sie sagen: Spanien will im nächsten Jahr die Bierpreise um die Hälfte senken, also müssen wir befürchten, dass jetzt alle Urlauber nach Spanien wollen.

Prof. Dr. Frank Kalter, Gründungsvorstand des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e.V., Professor für Allgemeine Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)

Studien, die den pull-mythos sozialleistungen widerlegen

In den meisten Studien wurde bisher kein signifikanter Zusammenhang zwischen Sozialleistungen für Asylsuchende und der Wahl des Ziellandes gefunden. Wie bereits oben angeführt, spielen die Faktoren „Soziale Netzwerke“ und weitere Faktoren eine größere Rolle. Lebt beispielsweise ein Teil von Familie oder Freunden bereits in Deutschland, so ist es wahrscheinlicher, dass dies der Grund ist, ebenfalls nach Deutschland zu kommen.

In einer Studie aus der Schweiz wurden nur begrenzte Hinweise darauf gefunden, dass Schutzsuchende systematisch in Orte mit höhreren Sozialleistungen ziehen. Die Autor:innen kamen zu dem Schluss, dass der Pull-Faktor „Sozialleistungen“ eher überbewertet wird. Wenn überhaupt, gäbe es Effekte nur in Bezug auf kurze Distanzen – beispielsweise von Kanton zu Kanton. Von, zum Beispiel, Eritrea aus aber in die Schweiz zu kommen, ist schon allein so kostenintensiv, dass kleine Unterschiede zwischen Sozialleistungen nicht wirklich ausschlaggebend sind.

Eine größere Studie stammt vom britischen Forscher Timothy J. Hatton. Er hat in 19 OECD-Staaten und über einen Zeitraum von neun Jahren (1997 bis 2006) untersucht, wie sich politische Verschärfungen auf die Zahl der Asylanträge aus insgesamt 56 Herkunftsländern ausgewirkt haben. Seine Ergebnisse: In Bezug auf staatliche Zahlungen fand er keinen messbaren Einfluss auf die Zahl der Asylantragsteller:innen in einem Land.

Es gibt gerade mal eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen gekürzten Sozialleistungen und geringeren Zuwanderungszahlen herstellen möchte, aber mit Daten aus Dänemark.

Pull-mythos sozialleistungen: daten aus dänemark

Diese Studie ist eine der Princeton-Universität und wird in der Debatte, ob weniger Sozialleistungen zu geringeren Fluchtzahlen führen, wird oftmals herangezogen. Die Forscher:innen untersuchten, ob verschiedene Senkungen und Anhebungen der Leistungen für Asylsuchende in Dänemark Einfluss auf die Zuwanderung hatten. Unter einer rechten politischen Führung 2002 wurden die Leistungen für Immigrant:innen von außerhalb der EU (Arbeits- und Studienvisa nicht einbegriffen) um 50% gekürzt. 2012 wurde die Kürzung unter einer Zentrum-links-Regierung aufgehoben, nur um 2015 unter einer rechten Regierung wieder eingeführt worden zu sein.

Quelle

Tatsächlich gingen, wie du im Diagramm sehen kannst, die Zuwanderungszahlen nach Kürzung der Sozialleistungen 2002 zurück. 2012 nahmen sie mit Anstieg der Leistungen wieder zu und gingen 2015 wieder zurück. Die Autor:innen der Studie sprechen von einem ersten wissenschaftlichen Beleg der sogenannten „Welfare Magnet Hypothesis“, also der Annahme, dass Zuwanderung von der Höhe von Sozialleistungen beeinflusst wird.

Auch in Österreich wurden signifikante Zusammenhänge zwischen gekürzten Sozialleistungen und Abwanderung gefunden. Die Ergebnisse sind jedoch auf Wanderungsbewegungen innerhalb Österreichs beschränkt. Eine ähnliche Studie aus den USA (2005) wiederum fand keine messbaren Effekte von Sozialleistungskürzungen. Es gibt nicht keine einzige Studie, den den Mythos „Pullfaktor“ belegt, aber die Belege sind sehr dünn. Viel zu wenig, um darauf Politik aufzubauen. Vor allem, da diese eine Studie gar nicht mal auf Deutschland anwendbar ist:

weniger sozialleistungen führen zu armut

Wenngleich die Studie aus Dänemark inhaltlich und methodologisch ziemlich robust ist, ist der direkte Vergleich mit Deutschland schwer herzustellen. Die Gründe dahinter: erstens sind die Sozialleistungen in Dänemark höher als hier. Und zweitens wurden sie um fast die Hälfte gekürzt. Bei der erneuten Kürzung der Zahlungen an Asylsuchende im Jahr 2015 belief sich diese von 1.450 Euro vor Steuern auf 800 Euro vor Steuern. Wie oben gezeigt: Zahlungen an Asylsuchende betragen bei uns maximal 410 Euro. Das ist ein Betrag, der schon so nah am Existenzminimum liegt, dass er bei gutem Gewissen nun wirklich nicht weiter kürzbar ist.

Auch die Forscher:innen der Princeton University fragen sich in ihrer Studie, ob Kürzungen von Sozialleistungen wirklich zum einem „sozialen Optimum“ führen würden. Wenngleich im Fall von Dänemark weniger Staatsausgaben dem Staat Dänemark zugute kommen, führt die restriktivere dänische Politik eben dazu, dass Schutzsuchende in andere europäische Länder gehen und dort versorgt werden müssen. Folgen aber alle Länder einer Kürzungspolitik, führt dies zu dem sogenannten „race to the bottom“-Effekt. Das bedeutet, alle europäischen Länder versuchen, sich in ihrer restriktiven Sozialleistungspolitik zu unterbieten. Den Kürzeren ziehen am Ende die Schutzsuchende, die dem Armutsrisiko ausgesetzt sind.

Man sieht: Das funktioniert nicht als gangbare Strategie. Am Ende sorgen wir einfach nur grausam für Leid und Armut und es kommen dadurch nicht weniger Schutzsuchende.

Pull-mythos Seenotrettung

Auch die Seenotrettung taucht in Debatten über Pull-Faktoren immer wieder auf. Hier ist die Faktenlage eindeutig: Seenotrettung ist kein Pull-Faktor. Menschen riskieren ihr Leben auf einer gefährlichen Überfahrt, weil das Leid so groß ist. Nicht, weil sie erwarten können, dass sie gerettet werden. Wenn wir Seenotrettung beenden, sterben einfach mehr Menschen. Es fliehen nicht weniger. Am Ende sind wir einfach völlig sinnlos unmenschliche Monster, die Menschen sterben lassen. Dies belegt eine aktuelle Studie eines internationalen Forschungsteams der Universität Potsdam.

Rettungsaktionen retten vor allem Leben, aber sie ziehen keine zusätzlichen Migranten an.

Ramona Rischke, Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung

Die Autor:innen analysierten Daten zwischen 2011 und 2020 von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der libyschen und tunesischen Küstenwache, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und einer Nichtregierungsorganisation. Diese ermittelt die Identität von Schutzsuchenden, die im Mittelmeer sterben. Aus diesen Daten wurde dann ein Modell entwickelt, das Aufschluss zu verschiedenen Fluchtmotivatoren gab. Das Ausmaß der Rettungsaktionen im Mittelmeer spielt dabei keine Rolle.

Abgesehen von der wissenschaftlichen Widerlegung der Behauptung, Seenotrettung würde zu mehr Flucht führen, geht in der öffentlichen Debatte unter, wie menschenfeindlich der Grundgedanke dieser Behauptung ist. Nicht nur bringt es rein gar nichts, es ist auch unethisch und illegal.

seenotrettung ist laut völkerrecht verpflichtend

Obwohl im Völkerrecht klipp und klar festgehalten ist, dass jeder Mensch in Seenot gerettet werden muss, sieht das das Bundesinnenministerium anscheinend anders. Entsprechend einer Klausel des geplanten Gesetzentwurfs des Bundeskabinetts könnten humanitäre Seerettungsorganisationen künftig vor deutschen Gerichten als Kriminelle verfolgt werden. Die Strafe: bis zu zehn Jahre Haft. Unter dem Vorwand, härter gegen Schleuser vorzugehen, werden nun Lebensretter kriminalisiert. Ein weiterer Fakt, warum der geplante Gesetzentwurf eine humanitäre Katastrophe ist.

Faule Ausreden für Rassismus

Die aufgeladene Diskussion über angebliche „Pull-Faktoren“ spiegelt im Grunde nur die Ausländerfeindlichkeit wider, die in Europa grassiert. Denn der Argumentationslogik zu folgen, sind „Pull-Faktoren“ mittlerweile etwas, das es zu vermeiden gilt. Doch die WIssenschaft zeigt: In dieser Form gibt es sie gar nicht. Also was genau wollen wir vermeiden? Menschenrechte zu achten? Grundrechte zu achten? Dafür zu sorgen, dass weniger Menschen zu uns fliehen tun wir damit auf keinen Fall. Warum fragt niemand, ob wir am Ende nicht einfach nur unmenschlich handeln, um die Rassist:innen im Land zufrieden zu stellen, nicht, weil es etwas bringen würde.

Wer heute „Pull-Faktor“ sagt, argumentiert im Alltagsdiskurs automatisch gegen Geflüchtete, denn Pull-Faktoren sind zu vermeiden. Und Geflüchtete aufzunehmen, wäre ja ein solcher.

Eric Wallis, Sprachwissenschaftler

Wir lassen uns komplett mit pseudo-Lösungen ablenken

Migrationsforscher Mathias Czaika hat für eine internationale Studie 13.000 Menschen in Herkunftsländern befragt. Sein Fazit:

Wer es durch Sahara und übers Mittelmeer bis nach Europa geschafft hat, der will hier nicht ein paar Hundert Euro abgreifen. Der will sich hier ein gutes Leben aufbauen und richtiges Geld verdienen.

Mathias Czaika, Professor für Migration und Globalisierung

Kürzungen von Sozialleistungen rechnet er keinen Effekt an. Viel wahrscheinlicher ist es, dass noch mehr Schutzsuchenden, die sich sowieso schon in einer vulnerablen Lage befinden, von Armut betroffen wären. Wann wird es Deutschland also schaffen, Flucht als Chance und nicht als Bedrohung zu sehen, Seenotretter auf dem Mittelmeer nicht zu kriminalisieren und eine produktive Integration zu ermöglichen?

Noch während ich diesen Artikel schreibe, weiß ich, dass trotz aller Fakten und Aufklärungsarbeit morgen wieder irgendein Rassist behaupten wird, XY sei ein Pull-Faktor und wir sollten diesen stoppen, damit „nicht noch mehr Menschen zu uns kommen“. So wichtig es auch ist, darüber aufzuklären, dass Sozialleistungen lediglich in spezifischen Fällen und nicht eindeutig gesichert zu mehr Flucht führen könnte und Seenotrettung kein Pull-Faktor ist, sollten wir den menschenfeindlichen Grundton der Pull-Mythos-Debatte niemals vergessen.

Dabei sollte doch die Debatte, die wir eigentlich führen sollten, eine andere sein, nämlich: Wie können wir dafür sorgen, dass Menschen gar nicht erst fliehen müssen? Wie können wir legale Wege schaffen, dass die Flucht, die so oder so kommt, geregelt, sicher und übersichtlich stattfindet? Mehr als die Hälfte der Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland kamen, haben inzwischen einen Job. Eine Studie zeigt: Sie arbeiten zunehmend als Fachkräfte. Können wir diese Menschen, die ohnehin zu uns fliehen, als Chance nutzen, um unsere Sozialkassen zu füllen und den Fachkräftemangel zu beseitigen?

Wahrscheinlich ist es idealistisch von mir zu hoffen, dass wir irgendwann mal diese Debatten in Talk-Shows, im Bundestag und auf den Straßen führen werden.

Artikelbild: Renata Brito/AP/dpa

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