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Longtermismus: Die KI-Religion der Tech-Barone
Longtermismus ist eine Ideologie hinter den politischen Ambitionen von Milliardären wie Elon Musk und Peter Thiel. Ein Vortrag auf dem 38C3 führt in die Denkweise ein, die vordergründig eine bessere Zukunft dank Künstlicher Intelligenz schaffen will, in Wirklichkeit jedoch mehr Ungleichheit bringt.
Elon Musk ist wohl so etwas wie der bekannteste Polit-Influencer. Er hat massiv Geld in den Wahlkampf für Donald Trump gepumpt. Millionenfach wurde in den Sozialen Medien sein Auftritt auf der Wahlkampfbühne geteilt: Musk im Sprung, das T-Shirt hochgerutscht und auf dem Kopf ein schwarzes Cappy mit der Aufschrift „Make America Great Again“, kurz MAGA.
Doch Amerika groß machen, das reicht dem Tech-Milliardär nicht. Musk ging weiter und bekannte sich offen zu „Dark MAGA“. Damit spielt er auf eine demokratiefeindliche Strömung der Alt-Right-Bewegung in den USA an, die sich „Dark Enlightenment“ nennt, also „Dunkle Aufklärung“. Sie ist wiederum eine Form des Longtermismus, einer rechten Ideologie, die unter einflussreichen Tech-Unternehmern der neue Goldstandard geworden ist .
Längst beschränkt sie nicht mehr auf das Silicon Valley, sondern streckt ihre Fühler aus in die Weltpolitik. Was hinter der gefährlichen Ideologie des langfristigen Denkens steckt, analysierte auf dem 38. Chaos Communication Congress in Hamburg der Soziologe Max Schnetzker in einem Talk mit dem Titel „Longtermismus – der „Geist“ des digitalen Kapitalismus“.
Opium fürs Volk
Elon Musk bildet zusammen mit anderen Tech-Baronen die Elite, für die der Longtermismus gemacht ist. Auch Branchengrößen wie Skype-Gründer Jaan Tallinn und Investor Marc Andreesen gehören zu den Anhängern. Außerdem Peter Thiel, der Gründer des Bezahldienstes Paypal und der Polizei-Software Palantir.
Von außen sieht es so aus, als wollten sie gravierende Probleme der Menschheit angehen, etwa mit der Charity-Organisation Giving What You Can, die sich ursprünglich auf die Fahne geschrieben hatte, Armut in der Welt zu bekämpfen. Hinter dem Longtermismus steckt jedoch eine Art säkulare Religion, die ihre Anhängerschaft den gesellschaftlichen Machtfantasien der Elon Musks und Peter Thiels dieser Welt gefügig machen will.
Max Schnetzker von der Universität Bonn zufolge ist das erste Ziel des Longtermismus die Etablierung einer Kastengesellschaft, in der manche Menschen einen Wert haben und andere nicht. Der Wert des Menschen bemesse sich dabei am gesellschaftlichen Stand, am finanziellen Vermögen und Bildungsstand. Eine Ideologie der Ungleichheit, die die Herrschaft von Eliten legitimiert.
Es sei deshalb wenig überraschend, dass Elon Musk Werbung für die rechtsextreme Partei AfD macht. Die Welt am Sonntag ließ ihn hierzu kürzlich zu Wort kommen. Musks Urteil: Die AfD sei der letzte Funke Hoffnung für Deutschland.
Elite-Unis als Geburtsstätten für KI-Religion
In seinem Vortrag lieferte Schnetzker einen Rundumblick über die Entstehung des Longtermismus und verwandter rechter Ideologien. Kritiker:innen wie Timnit Gebru und Èmile P. Torres fassen die Strömungen mit dem Kürzel TESCREAL zusammen, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben von Theorien wie Transhumanismus und effektiver Altruismus.
Dabei handelt es sich keinesfalls um akademische Randerscheinungen, sondern um gut positionierte philosophische Theorien, die eigene Institute an Top-Universitäten wie Cambridge und Oxford haben. Führende Denker sind Philosophen Nick Bostrom, Peter Singer und William MacAskill von einer der bekanntesten Organisationen, dem Future of Humanity Institute an der Universität Oxford.
Ihre Mission ist es, Forschung dort zu konzentrieren, wo sie langfristig den größten positiven Einfluss auf die Menschheit haben kann. Und den größten Nutzen verspricht ihnen zufolge die Entwicklung von Technologie wie generativer Künstlicher Intelligenz. Der absurde Schluss des Longtermismus: Wir müssen jetzt alles opfern für das künftige Techno-Paradies, in dem eine wohlwollende Superintelligenz der Menschheit das beste Leben auf Erden beschert.
Die grundlegenden Annahmen dieser KI-Religion sind laut Schnetker folgende: Das menschliche Gehirn und gegenwärtige generative KI sind sich im Wesentlichen gleich, weswegen es nur eine Frage der Zeit ist, bis es eine AGI gibt, eine Artificial General Intelligenz. Also eine allgemeine KI, die so viel kann wie das menschliche Gehirn. Daraufhin werde es wiederum nur eine Frage der Zeit sein, bis es eine Superintelligenz gibt, die die menschliche Intelligenz in allem übertrifft.
Longtermisten rechnen damit, dass AGI und Superintelligenz die Welt übernehmen. Das sei der Zustand der Singularität, so Schnetker. Damit dieser möglichst positiv für die Menschheit ist, müsste diese jetzt alles dafür tun, KI positiv zu gestalten. In ferner Zukunft sollen Menschen dann als Computerprogramme im KI-Himmel weiterleben können.
„Awareness schaffen“
Um dieses Ziel zu erreichen, fokussieren die Longtermisten laut Schnetker fiktionale Menschen in der Zukunft. Dafür nivellierten sie allerdings die Bedürfnisse und Interessen fast aller realen Menschen in der Gegenwart. Daneben hebelten sie die Kritik am digitalen Kapitalismus aus, die sich in Regulierungsmaßnahmen wie der KI-Verordnung der EU niederschlage. Um die Mär vom endlosen Wachstum aufrechtzuerhalten, erweiterten Longtermisten den Raum des Handelns weit in die Zukunft.
Die Gefahr liegt auf der Hand: Menschen, die sich vom Longtermismus überzeugen lassen und das Ziel eines KI-Himmels vor Augen haben, lassen sich auch leicht davon überzeugen, extreme Maßnahmen zu ergreifen oder zu akzeptieren, die dabei helfen sollen, das Techno-Paradies herbeizuführen.
Doch wie gegen den zunehmenden Einfluss des Longtermismus vorgehen? Darauf habe er keine Antwort, so Schnetker. Das Wichtigste sei Bewusstsein dafür zu schaffen, welche extremen Auswüchse die Ideologie in Politik und Gesellschaft annimmt – und wie sie schon jetzt daran beteiligt ist, rechte Bewegungen salonfähig zu machen.
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Author: Esther Menhard