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Leben im größten Feuchtgebiet der Welt

Neuerdings ist dieser Rhythmus gestört. Aus dem Cerrado, der riesigen angrenzenden Feuchtsavanne, in der der wichtigste Fluss des Pantanal entspringt, fließt weniger Wasser zu. Schon jetzt sind 47 Wasserkraftwerke im Becken des Río Paraguay in Betrieb, weitere 130 sind geplant. Umweltschützer:innen und die nationale Wasserbehörde ANA protestieren.

Im Cerrado sind zudem zwei Drittel des ursprünglichen Bewuchses Rinderwiesen und Sojaplantagen gewichen. Klimaveränderungen bringen größere Hitze und weniger Regen. So entstehen immer öfter Flächenbrände wie im Jahr 2020, als 4,5 Millionen Hektar Land abbrannten. Etwa 17 Millionen Tiere starben, 75 Millionen weitere wurden verletzt. Die Bilder erschütterten die Welt: Jaguare mit verkohlten Tatzen, Affen, die bei ihrer Flucht nach oben vom Baumkronenbrand überrascht wurden, Jararaca-Schlangen, die sich in Panik auf die Flammen stürzten und in ihnen verbrannten. Die Brände haben bis heute Wunden in der Tierwelt hinterlassen.

„Bei den Hyazinth-Aras schlüpfen immer noch kleinwüchsige Küken oder welche mit Hautproblemen“, erklärt Neiva Guedes. Die Biologin hat vor dreißig Jahren die NGO Arara Azul ins Leben gerufen, weil damals die Hyazinth-Aras auszusterben drohten. Ihre Nistplätze schwanden durch die Abholzung. Sie wurden zu Dutzenden gefangen und als Haustiere in Nachbarländer verkauft. Durch die Arbeit der NGO leben wieder 5.000 der Vögel im Pantanal und dem angrenzenden Cerrado.

Unabhängig von der Unterstützung der NGO sind sie noch nicht. Arara Azul betreut Nistkästen, behandelt Krankheiten und sammelt Daten. „Als es 2023 bis zu 54 Grad heiß war, haben es die Vögel nicht auf ihren Eiern ausgehalten“, erzählt Neiva Guedes. Die Wasserbehörde ANA hat im Mai 2024 den Wassernotstand für den Río Paraguay ausgerufen. Auch der Cuiabá dümpelt fast einen Meter unterhalb des normalen Pegels. Die Ebene hinter den Häusern von Alves des Arrudas Familie gleicht einer Steppe. 2024 droht die schlimmste Trockenheit aller Zeiten.

Gute zwei Bootsstunden flussaufwärts vom Gebiet der Guató versuchen die Wissenschaftler:innen des privaten Naturschutzgebietes RPPN Sesc Pantanal sich darauf vorzubereiten. Mehr als neunzig Prozent der 108.000 Hektar wurden 2020 durch das Feuer geschädigt. „Heute sieht alles wieder grün aus, aber wenn man genau hinschaut, sind die toten Bäume nur von Schlingpflanzen überwuchert“, sagt Alexandre Enout, der Verwalter des Schutzgebietes. 40.000 einheimische Baumsetzlinge haben Parkwächter:innen neu gepflanzt.

Viele der Bäume des Pantanal sind mit ihren harten, runzligen Rinden resistent gegen Feuer – wenn es nicht gerade Großbrände sind. Der Plan: Mit gezielt gelegten Kleinbränden strategische vegetationsfreie Inseln schaffen, die verhindern, dass ein kleiner Brandherd zum unkontrollierbaren Flächenbrand wird.  João Paulo Morito vom Chico-Mendez-Institut für Biodiversität ICMBio: „Feuer ist erst dann ein Problem, wenn Brände nicht durch das Wasser der überfluteten Flächen eingegrenzt werden.“ Heute liegen Sedimente und Pflanzenreste offen als Zunder in der Sonne und jeder Brand ist eine Bedrohung.

Knapp 850 Kilometer weiter südlich erholen sich Tourist:innen im Pool von der morgendlichen Safari. Sie besuchen in der Nähe von Campo Grande die Lodge Refúgio Caiman. Die klimatisierten Räume und das Restaurant mit lokalen Spezialitäten wie aus Bocaiuva-Mehl gebackenen Kuchen versöhnen mit den unerbittlichen Temperaturen und den Mücken. Auf der Caiman-Farm beobachten die Besucher:innen die Tierwelt aus Jeeps, wie man sie aus Afrika kennt. An diesem Morgen hat der Guide eine Jaguarmutter mit Nachwuchs im hohen Gras entdeckt. Die Tiere sind längst an das tiefe Brummen des Jeepmotors gewöhnt und die Guides halten den nötigen Abstand, um sie nicht zu verschrecken. Sieben Jaguare habe sie in fünf Tagen gesehen, schwärmt Nicole aus Massachusetts: „absolutely overwhelming“.

Zur gleichen Zeit vernichtet ein Farmer im Norden des Pantanal 80.000 Hektar Wald durch Pulverisierung von 24 verschiedenen Giftstoffen. Er will Weideland für Rinder schaffen. Der Farmer ist bekannt für Verstöße gegen Umweltgesetze, sein Bußgeld soll mehr als zwei Milliarden Real ausmachen, fast 350.000 Euro. Ob er es zahlen wird, ist unklar: Zwischen 2019 und 2021 haben mehr als drei Viertel der Umweltsünder:innen im Pantanal ihre Bußgelder nicht bezahlt. 85 Prozent aller Rodungen zwischen 2020 und 2021 waren illegal.

Schatz der Menschheit

Dabei haben Wissenschaftler:innen den Wert der Umweltdienste des Pantanal auf jährlich 100 Milliarden US-Dollar beziffert. Die über- und unterirdische Vegetation im Feuchtgebiet speichert 153,9 Tonnen CO2 pro Hektar, etwa ein Drittel der 593,8 Tonnen pro Hektar im Amazonaswald. Bislang ist der Blick der Welt weit häufiger auf Amazonien gerichtet als auf Pantanal und Cerrado. Bruno Wendling, Vorsitzender einer lokalen Tourismusstiftung, sagt: „Tourismus im Pantanal bedeutet Arten- und Naturschutz, den Erhalt der lokalen Kultur und eine bessere Sichtbarkeit in den Augen der Welt.“

Jährlich kommen mehrere hunderttausend Besucher:innen, etwa die Hälfte aus Brasilien, die anderen aus den USA und Europa. Es sind vor allem Angler:innen und Naturliebhaber:inen, die Vögel, Tapire und andere Tiere sehen wollen. Hier gibt es fast alles, was auch im Amazonaswald lebt – aber viel mehr offene Flächen, auf denen die Tiere besser zu sehen sind. Touristische Aktivitäten bringen mehr Umweltbewusstsein und Geld für den Artenschutz, indem etwa die Gäste im Refúgio Caiman für ihre Ausflüge zu den Aras oder den Jaguaren direkt an die jeweiligen NGOs zahlen.

Durch die zahlenden Gäste erscheinen die Wildtiere auch den Einheimischen in einem anderen Licht. Jaguare sind für viele Rinderzüchter:innen die größten Feinde, weil sie junge und schwache Tiere aus den Herden reißen und damit für Finanzeinbußen sorgen. Die Farmer:innen ließen die Raubtiere über Jahrzehnte reihenweise abschießen, sodass die Bestände immer weiter zurückgingen. Im Refúgio Caiman können die Jaguare Rinder reißen, ohne die Bilanzen zu verderben: Die Raubkatzen sind einer der Hauptgründe, warum Tourist:innen die Lodge besuchen. Auch Adler, Tuiuiu und Wasserschweine spazieren hier angstfrei über die unbefestigten Wege. Der Gastbetrieb läuft inzwischen ganzjährig und schreibt schwarze Zahlen. Als die Jaguare mit den Jahren immer näher um das Lodge-Gebäude strichen, haben die Menschen einfach einen Zaun darum gebaut.

Manchmal beherbergt auch Alves de Arruda Besucher im ehemaligen Kinderzimmer seines Hauses. Meistens sind das Angler, die er kennengelernt hat, als er noch für ein Ausflugs-Unternehmen gearbeitet hat. Stolz zeigt er auf eine Fotogalerie an der Wohnzimmerwand: Anwälte hängen da, Ärzte, Unternehmer. Wenn er ein paar Minuten Zeit hat, macht er einen Online-Sprachkurs, wiederholt wieder und wieder die englischen Sätze. Doch allzu lange hält es ihn nie auf dem Sofa im Wohnzimmer.

665 verschiedene Vogelarten, 265 Fischarten, 123 Säugetier- und über 1.700 Pflanzenarten sind der Grund, warum das Pantanal-Feuchtgebiet von den Brasilianern auch als „Garten Eden” bezeichnet wird. Foto: Murilo Frazao

Es ist längst dunkel, als er ein letztes Mal ins Boot steigt, einen Fisch fangen fürs Abendesse. Der Fluss liegt so still in seinem Bett wie ein See, der Mond spiegelt sich im Wasser, Frösche quaken. „Hast du je so einen Frieden erlebt“, fragt Alves de Arruda und lässt die Angelleine sanft ins Wasser gleiten. Minuten später zieht er eine Dorade heraus und manövriert das Boot vorsichtig ein paar Meter weiter. Geräusche vom Ufer dringen herüber, eine Art Bellen oder Fauchen, dann ein dumpfer Laut, als spränge ein großer Hund plötzlich in ein Boot.

„Das sind Jaguare“, erklärt Alves de Arruda, „sie erlegen gerade ein Krokodil.“ Die Tiere sind maximal zwanzig Meter entfernt. Alves de Arruda fährt näher ans Ufer und stellt den Motor ab. Zwischen Grillen und Fröschen ist jetzt deutlich das laute Knacken und Krachen zu unterscheiden, mit dem die Raubkatzen die Knochenplättchen zermalmen, die bei den Kaimanen unter jeder Hautschuppe liegen. Nach einer Weile stellt Adílio Alves des Arruda den Motor wieder an: „Den Fisch haben wir ja schon, Zeit zum Essen.“

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