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Interview: So funktioniert Antikurdischer Rassismus

Belltower.News

Über 30 Millionen Menschen weltweit, 1,3 Millionen davon in Deutschland: Kurd*innen sind die größte Bevölkerungsgruppe ohne eigenen Staat. Und kurdischstämmige Menschen gehören auch zu den größten Einwanderungsgruppen Deutschlands. Und sie erleben eine spezifische Form des Rassismus. In einer wissenschaftlichen Expertise im Auftrag des Mediendienst Integration aus dem Jahr 2023 berichteten alle kurdischstämmigen Befragten von beobachteten oder selbst erlebten Diskriminierungs- und Rassismus-Erfahrungen im Alltag: darunter Beleidigungen, Prügel auf dem Schulhof, Benachteiligung und Mobbing am Arbeitsplatz, Hass- und Vernichtungswünsche bis hin zu gewaltsamen Übergriffen und Morddrohungen. 

Von Redaktion Belltower.News|

Kurd*innen demonstrieren in Berlin gegen Diskriminierung und staatliche Unterdrückung.

(Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Michael Kuenne)

Die Diskriminierung kurdischstämmiger Menschen bleibt in der deutschen Öffentlichkeit aber weitgehend unsichtbar. Die Informationsstelle Antikurdischer Rassismus (IAKR) will das ändern. Auf der Homepage des IAKR können anonym Vorfälle von Antikurdischem Rassismus gemeldet werden, die anschließend in einem Jahresbericht veröffentlicht werden sollen. Im Gespräch erklärt die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim die Hintergründe und Merkmale von Antikurdischem Rassismus und analysiert die besondere Rolle der deutsch-türkischen Beziehungen für die strukturelle Diskriminierung kurdischstämmiger Menschen in Deutschland.

Belltower.News: Wodurch kennzeichnet sich Antikurdischer Rassismus?
Dastan Jasim: Antikurdischer Rassismus hat seinen Ursprung in der modernen Nationalstaatsbildung im Mittleren Osten im 19. Jahrhundert. Staaten wie die Türkei und der Iran, und auch Syrien und der Irak, die von Großbritannien und Frankreich etabliert wurden, bauten ihre Existenz darauf, die Kurd*innen zu verleugnen und deren Siedlungsgebiete zu trennen. Der zentrale Mechanismus des Antikurdischen Rassismus ist die Dialektik aus Verleugnung und Niedermachung. Einerseits wird die Existenz der Kurd*innen geleugnet, indem ihnen Geschichte, Sprache und Kultur abgesprochen wird. Das zeigt sich in ihren Hauptsiedlungsgebieten im Irak, Iran, Syrien und der Türkei beispielsweise durch die Kriminalisierung der kurdischen Sprache, Deportationen und Vernichtungskriegen. Andererseits wird die kurdische Identität herabgesetzt und niedergemacht, indem sie als Feindbild und Bedrohung für den Staat und das Gemeinwohl dargestellt wird.

Wie hat sich Antikurdischer Rassismus in der Türkei entwickelt?
Vor allem die Herabsetzung als eine Form von Antikurdischem Rassismus hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und angepasst. In der Türkei setzte die Regierung unter Mustafa Kemal Atatürk ab 1923 ein zentrales, modernisiertes Staatssystem nach europäischem Vorbild durch, das sehr nationalistisch war. Atatürk übernahm Theorien der türkischen Rechten, etablierte sie in der Gesellschaft und Politik und gründete ein Forschungszentrum zum Türkentum, das noch bis heute besteht. Unter Atatürk wurde die Assimilierung der Kurd*innen durch zahlreiche Dekrete vorangetrieben, die kurdische Bevölkerung wurde beispielsweise enteignet. Auch wurden türkische Soldaten in der kemalistischen Zeit europäisch idealisiert, während Kurd*innen phänotypisiert und karikaturistisch als unmodern und minderwertig dargestellt wurden. Dabei wurden auch Geschlechterrollen stark stereotypisiert, besonders in der Darstellung der kurdischen Frau als  „unzivilisiert” und „männlich” im Gegensatz zur idealisierten republikanischen türkischen Frau. Unter dem heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterscheidet Antikurdischer Rassismus weniger zwischen „modern” und „unmodern”, sondern zwischen „islamisch” und „unislamisch”. Heute werden Kurd*innen in der Türkei, aber auch im Iran, vordergründig als „unislamisch” und „frevelhaft” dargestellt. Die rassistische Kategorisierung von Kurd*innen ist also flexibel und vermischt mittlerweile ethnische und religiöse Aspekte. Und in der Türkei fand ein kultureller Genozid an den Kurd*innen statt, der entlang vieler Linien verlief. Die kurdische Sprache wurde verboten, kurdische Literatur und die Weitergabe literarischer Geschichten wurden kriminalisiert. Der Name Kurdistan und damit ihre eigene Existenz wurden verleugnet. Kurdische Musik und Feste wie das Neujahrsfest Newroz wurden verboten und gewaltsam angegriffen. Und auch viele bedeutende kurdische Künstler*innen werden bis heute noch ins Exil getrieben.

Gibt es ein Bewusstsein für Antikurdischen Rassismus in Deutschland?
Der Begriff Antikurdischer Rassismus hat erst in den letzten Jahren Einzug in deutsche Diskurse gefunden. Nach dem rassistischen Anschlag von Hanau im Februar 2020 haben viele Kurd*innen erlebt, dass der Rassismus, dem sie in Deutschland ausgesetzt sind, vielschichtig ist. Obwohl mehrere der neun Mordopfer in Hanau kurdischer Herkunft waren, wurde ihre kurdische Identität in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Diese Erfahrung hat die Notwendigkeit verdeutlicht, Antikurdischen Rassismus explizit zu benennen. Im selben Jahr hat die Black Lives Matter-Bewegung die Diskussion über Anti-Schwarzen Rassismus in Deutschland intensiviert, was auch das Bewusstsein für die Differenzierung von Antikurdischem Rassismus geschärft hat.

Welche strukturellen Diskriminierungen erfahren Kurd*innen in Deutschland?
In Deutschland wird die ethnische Zugehörigkeit statistisch nicht erfasst, aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dokumentiert zunehmend die kurdische Herkunft. Über 60 Prozent der türkeistämmigen Asylbewerber*innen sind demnach Kurd*innen, ihre Asylanträge werden häufig abgelehnt, weil die Türkei als „sicherer Drittstaat” gilt. In Geflüchtetenunterkünften werden kurdischstämmige Menschen nicht ausreichend vor Ausgrenzung, Rassismus und Gewalt geschützt. Ein weiteres Problem sind Strukturen wie die Grauen Wölfe und die eigentlich seit 2018 verbotenen Osmanen Germania, die gewaltsam gegen Kurd*innen vorgehen. Eine Anfrage der Linkspartei zeigt, dass Diskriminierung und Gewalt gegen Kurd*innen – trotz Erwähnung im Verfassungsschutzbericht – hierzulande nicht ausreichend erfasst werden. Kurdische Vereine werden oft kriminalisiert und kurdische Geflüchtete, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, müssen weiterhin ins türkische Konsulat gehen, wo sie massive Diskriminierung erfahren.

Wie haben deutsch-türkische Beziehungen zur strukturellen Diskriminierung kurdischer Migrant*innen beigetragen?
In Deutschland zeigt sich eine besonders perfide Form einer kapitalistisch rentablen Entwurzelung der kurdischen Diaspora. In den 1960er Jahren kamen viele Kurd*innen als Gastarbeiter*innen nach Deutschland. Die Darstellung des Gastarbeiter*innen-Programms als deutsch-türkisches „Projekt der Geschwisterlichkeit“ ignoriert die zahlreichen Biografien von kurdischen Familien aus der Türkei. Viele kurdische Gastarbeiter*innen waren bereits Binnenflüchtlinge oder Nachkommen von Familien, die in den türkischen Westen deportiert wurden. Das Gastarbeiter*innen-Programm diente als verdeckte kurdische Großflucht. Meist konnten kurdische Familien es sich finanziell nicht leisten, ihre Kinder bei sich in Deutschland großzuziehen, die also jahrelang bei Familienangehörigen in der Türkei bleiben mussten. Dort durften sie in der Schule nicht ihre Sprache sprechen und wurden sogar dazu gedrängt, Familienmitglieder zu verraten, die kurdisch sprechen. Gleichzeitig wurden die Eltern in Deutschland kapitalistisch ausgebeutet, in einer Gesellschaft, die den Nationalsozialismus nie aufgearbeitet hatte. Dieser deutsch-türkische Kontext führte oft zur problematischen Assimilierung von Kurd*innen und setzte den kulturellen Genozid fort.

Hat der deutsche Staat versagt, seine Rolle in diesem Genozid aufzuarbeiten?
Wenn das Ziel gewesen wäre, die kurdische Migrationsgesellschaft zu verstehen und ihre Situation zu verbessern, wäre das ein Versagen. Tatsächlich war das Ziel jedoch, die Kurd*innen als Sicherheitsbedrohung in Schach zu halten. Daher werden die meisten Statistiken vom Verfassungsschutz koordiniert und Kurd*innen als Terrorgruppe wahrgenommen.

Welche Konsequenzen hat das für die kurdischstämmige Bevölkerung in Deutschland?
Das führt zu einem Umgang mit Kurd*innen, der auf Sicherheitsbedenken basiert und nicht auf einer differenzierten Analyse ihrer Situation. Es gibt schließlich eine enge Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Behörden, einschließlich des Informationsaustauschs mit dem Bundesnachrichtendienst. Wir brauchen aber dringend einen vermenschlichenden Umgang mit der kurdischen Bevölkerung in Deutschland und eine Zusammenarbeit mit politischen Akteur*innen, die eine Gleichberechtigung der Kurd*innen in der Gesellschaft anstreben. Es ist wichtig, dass es mit der IAKR endlich eine Meldestelle gibt, um die statistische Unsichtbarmachung von Antikurdischem Rassismus zu bekämpfen. In den Medien wird oft nur mit türkischstämmigen Personen gesprochen, etwa bei Themen wie Graue Wölfe oder Islamismus, und nicht mit kurdischen Personen. Diese Praxis sollte geändert werden, ähnlich wie beim Thema Rassismus, wo es unpassend ist, nur Deutsche zu befragen. Solche Maßnahmen können zur Unterstützung und stärkeren Repräsentation kurdischer Personen beitragen.

Welche Veränderungen haben sich durch die verstärkte Diskussion über Antikurdischen Rassismus bereits ergeben?
Ich glaube, dass mehr Aufmerksamkeit auf Diskriminierung innerhalb migrantischer Communitys gerichtet wird, was für bestehende antirassistische Allianzen ungemütlich sein könnte. Viele Allianzen basieren auf einem Pakt des Schweigens und vermeiden Konflikte. Mit der zunehmenden Diskussion wird erwartet, dass migrantische Gruppen ihre eigene Rolle und ihr Gepäck aufarbeiten. Die progressiven und religionskritischen Bewegungen aus dem kurdischen Kontext haben dazu geführt, das Bewusstsein für den Genozid an den Jesid*innen und die Pogrome an den Alevit*innen sowie das Thema des Genozids an den Armernier*innen zu schärfen. Es ist erfreulich zu sehen, dass Armenier*innen heute auf die Unterstützung von Kurd*innen zählen können, obwohl viele kurdische Stämme damals am Völkermord beteiligt waren. Und beim Thema Antikurdischer Rassismus, ebenso wie beim Antiziganismus, zeigt sich deutlich, dass unterschiedliche migrantische Gruppen verschiedene Formen von Diskriminierung erleben. Ich hoffe, dass sich viele Gruppen diesem Diskurs öffnen und erkennen, dass es nicht nur eine leere Provokation ist, sondern das Anerkennen eines Rassismus, der älter ist als die deutsche Migrationsgesellschaft.

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