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Interview: Sind Kurd*innen in Deutschland sicher?

Belltower.News

Seit Dezember 2023 gibt es die Online-Beratungsplattform Pena.ger. Der Name setzt sich aus den kurdischen Wörtern „Pena“ (Schutz/Hilfe) und „Ger“ (Suche/Suchender) zusammen. Ziel der Initiative ist es, den Zugang zu Beratungs- und Hilfsangeboten für Geflüchtete zu erleichtern, insbesondere durch niedrigschwellige Beratung im Asylverfahren, Orientierungshilfen im Alltag sowie die Vermittlung an spezialisierte Beratungsstellen. Pena.ger bietet Unterstützung in Kurdisch (Kurmancî/Soranî), Deutsch, Englisch, Türkisch und Farsi an.

Von Redaktion Belltower.News|

Demonstrierende in Berlin protestieren gegen das PKK Verbot im November 2022.

(Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Michael Kuenne)

Seit der Gründung hat das ehrenamtliche Team von Pena.ger bereits über 2.000 Geflüchtete beraten. Neben der Online-Plattform betreibt die Initiative mittlerweile auch Standorte in Frankfurt und Erfurt sowie einen Pool von Sprachmittler*innen. Im Interview berichtet die Initiative über Diskriminierungen, mit denen insbesondere kurdische Geflüchtete in Deutschland konfrontiert sind, und die akuten Gefahren, die mit den Abschiebungen von Kurd*innen in die Türkei und den Irak verbunden sind.

Belltower.News: Wie hat sich die Anerkennungsquote für kurdische Geflüchtete in Deutschland entwickelt?
Pena.ger: 2023 stellten rund 61.180 Menschen aus der Türkei in Deutschland einen Asylantrag und stellten damit den zweitgrößten Anteil der Asylsuchenden dar. Laut PRO ASYL wurden in Deutschland bis Juni 2024 fast 16.000 Erstanträge aus der Türkei registriert. Rund 80 Prozent der Geflüchteten aus der Türkei sind kurdischer Herkunft. Trotz der weit verbreiteten Verfolgung bleibt die Anerkennungsquote für Kurd*innen in Deutschland jedoch auffallend niedrig: Nur sechs Prozent der Kurd*innen aus der Türkei erhielten hierzulande Schutz, während es bei türkischen Asylsuchenden 65 Prozent waren.

Welche besonderen Herausforderungen erleben kurdische Geflüchtete während des Asylverfahrens in Deutschland?
Kurdische Geflüchtete stehen im Asylverfahren oft vor spezifischen Hürden, wie der pauschalen Zuordnung zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Diese Verknüpfung verstärkt rassistische Vorurteile und erschwert ihre Anerkennung als Verfolgte, selbst wenn sie eindeutige Beweise für ihre Verfolgung vorlegen können. Ebenso ermöglichen bilaterale Abkommen, wie das aktuelle Rücknahmeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei, die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber*innen, obwohl in der Türkei Oppositionelle, Kurd*innen und LGBTQIA+-Personen systematisch verfolgt werden. Kurd*innen berichten zudem von systematischen Benachteiligungen in deutschen Behörden wie Landratsämtern und Migrationsberatungsstellen, etwa durch verweigerte Termine und fehlerhafte Beratung. Insbesondere Diskriminierungen und Fluchtgründe von kurdischen Geflüchteten aus der Türkei und dem Iran bleiben oft unentdeckt. Die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim schreibt, dass diese fehlende Anerkennung häufig das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen sei und mit einer Kriminalisierungspolitik Hand in Hand gehe, die kurdische Geflüchtete marginalisiere, anstatt ihnen Schutz zu bieten. Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL kritisieren die deutsche Asylpraxis gegenüber Kurd*innen als unzureichend und diskriminierend, insbesondere bei Kurd*innen aus der Türkei. Es ist dringend notwendig, die Asylanträge kurdischer Geflüchteter gerechter und differenzierter zu prüfen.

Welche Rolle spielt die religiöse Zugehörigkeit von kurdischen Geflüchteten im Asylverfahren?
Die religiöse Zugehörigkeit spielt eine entscheidende Rolle bei Asylentscheidungen, vor allem für religiöse Minderheiten wie Alevit*innen und Jesid*innen. Alevit*innen, die in der Türkei häufig verfolgt werden, haben es in Deutschland schwer, Asyl zu erhalten, da ihre religiöse Verfolgung hierzulande nach wie vor nicht ausreichend anerkannt wird. Jesid*innen, die Opfer des Völkermords durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) wurden, gelten zwar häufig als besonders schutzbedürftig, sind jedoch nicht immer vor Abschiebung geschützt. In einigen Bundesländern, wie Nordrhein-Westfalen und Bayern, wurde der Abschiebestopp für Jesid*innen in den Irak mittlerweile aufgehoben.

Welche Folgen haben die Abschiebungen in den Irak für Jesid*innen?
Die Sicherheitslage in vielen Teilen des Iraks, insbesondere in den Heimatregionen der Jesid*innen, bleibt weiterhin prekär. Obwohl der sogenannte Islamische Staat (IS) in der Region Shingal (Sinjar) zurückgedrängt wurde, drohen nach wie vor Anschläge und Entführungen. Die akute Gefahr für Jesid*innen durch extremistische und islamistische Gruppen im Irak wird dabei weitgehend ignoriert. Außerdem sind Jesid*innen in Teilen der irakischen Gesellschaft weiterhin Anfeindungen ausgesetzt, was eine sichere Rückkehr zusätzlich erschwert. Zerstörte Dörfer, katastrophale Infrastruktur und mangelnde medizinische Versorgung verschärfen die Situation weiter. Besonders problematisch sind Abschiebungen für traumatisierte Frauen und Kinder, die vom IS entführt und misshandelt wurden, da sie oft mit den Täter*innen des Genozids in ihrer Heimat konfrontiert werden. Trotz der internationalen Anerkennung des Völkermords gibt es im Irak kaum Bestrebungen, den Überlebenden Schutz und Gerechtigkeit zu bieten. Expert*innen und Menschenrechtsorganisationen fordern daher dringend einen generellen Abschiebestopp für Jesid*innen. Eine Abschiebung in ein unsicheres und instabiles Umfeld würde ihre Genesung und die Verarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse erheblich behindern.

Warum ist Deutschland dennoch in einigen Fällen bereit, Jesid*innen in den Irak abzuschieben?
Die Bundesregierung argumentiert, dass die systematische Gruppenverfolgung der Jesid*innen seit 2017 nicht mehr besteht, da der IS militärisch zerschlagen wurde. Einige Bundesländer setzen deshalb Abschiebungen um, obwohl die Sicherheitslage in Shingal (Sinjar) weiterhin fragil ist. Die Region wird regelmäßig von türkischen Militärdrohnen angegriffen, während parallel bewaffnete Konflikte zwischen verschiedenen lokalen Gruppen ausgetragen werden.

Und wie steht es um die Sicherheit von Kurd*innen in deutschen Geflüchtetenunterkünften?
Kurdische Geflüchtete berichten oft von Diskriminierung durch türkisch oder arabisch gelesene Sozialarbeiter*innen, die sie absichtlich falsch beraten oder Termine verschweigen. Viele Ratsuchende berichten zudem, dass Dolmetscher*innen die Übersetzungen verweigern. Schikanen durch Sicherheitspersonal, wie unangemeldete Zimmerkontrollen und rassistische Beleidigungen, sind ebenfalls weitverbreitet. Marginalisierte Gruppen wie queere Kurd*innen oder Geflüchtete mit Behinderungen erfahren zusätzliche Diskriminierung und erhalten kaum Unterstützung. Obwohl bundesweite Schutzstandards existieren, die Beschwerdemöglichkeiten und den Zugang zu unabhängigen Beratungsstellen umfassen, sind diese aufgrund von Sprachbarrieren oft nur schwer zugänglich. Besonders vulnerable Gruppen wie LGBTQIA+, Frauen und Menschen mit Behinderungen benötigen dringend besser geschultes Personal in Geflüchtetenunterkünften. Die Frage der Zugänglichkeit und Niedrigschwelligkeit sind in diesem Zusammenhang ebenfalls entscheidend: Wie können Geflüchtete die Beratungsstellen erreichen? Welche Sprachen werden angeboten und stehen Übersetzer*innen zur Verfügung?

Welche Hürden begegnen euch?
Als Sozialarbeiter*innen und Berater*innen im Bereich Flucht und Migration stehen wir vor vielfältigen Herausforderungen. Dazu gehören komplexe und sich ständig ändernde Gesetze sowie bürokratische Hürden und widersprüchliche Regelungen im Asylsystem. Das macht es schwer, den Geflüchteten die langen und komplizierten Abläufe verständlich zu erklären. Hinzu kommt, dass unsere rechtlichen Befugnisse begrenzt sind. In schwierigen Beratungssituationen ist es wichtig, den Ratsuchenden ehrlich zu kommunizieren, dass Pena.ger beispielsweise eine Abschiebung nicht verhindern kann, jedoch Unterstützung durch Informationen über Rechte, Solidaritätsnetzwerke und Anlaufstellen bietet, um den Ratsuchenden bei der Bewältigung ihrer Belastungen zu helfen.

Welche Möglichkeiten gibt es, um Pena.ger zu unterstützen?
Wer unsere Arbeit unterstützen möchte, kann sich über Instagram, Twitter, jetzt X oder per E-Mail (pena.ger@yahoo.com) melden. Wir haben einen Minifonds für Geflüchtete eingerichtet und freuen uns über Spenden, die wir für Erstberatungsgespräche bei Anwält*innen oder für Klagekosten verwenden.

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