Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Es wird viel geredet über das Scheitern der Digitalisierung in Deutschland, aber nicht immer von den Richtigen. Ein Management-Gelaber-Problem, findet Bianca Kastl. Dabei könnten wir doch so viel von den ganz praktischen Fehlern lernen.
Ein stiller Raum am Morgen, ein Stuhlkreis mit fünf Personen.
Gruppenleitung: Willkommen bei unserer heutigen Sitzung der Gruppe der anonymen Digitalisierungsver… Ähm, der anonymen Menschen mit einem Umsetzungsproblem bei der Durchführung von Maßnahmen zur Digitalisierung. Ihr wisst, ihr könnt hier ganz offen reden, alles bleibt hier unter uns. Wie ich sehe, sind alle hier aus Deutschland, von daher können wir die Umschreibungen zur Beschönigung des aktuell desolaten Zustands der Digitalisierung in Deutschland ja weglassen. Ihr dürft auch sagen, dass die Situation schlecht ist, wir sind hier unter uns. Wer mag den anfangen, über seine Digitalisierungsprobleme zu sprechen?
Erste Person: Ja also hallo, ich der Ma… äh, Michael. Und eigentlich bin ich in der Runde hier nur stellvertretend für meine Chefin.
Ganze Gruppe: Hallo Michael.
Erste Person: Also, meine Chefin ist eigentlich total elementar für die Digitalisierung unserer Bürokratie, aber irgendwie kümmert Sie sich lieber um Sicherheitsdinge und so Sachen, dir ihr gerade andere Gruppen lauthals vorsagen. Deswegen muss ich dann die Digitalisierung machen, aber irgendwie machen die anderen Verwalter ein paar Ebenen drunter nicht mit. Aber jetzt haben wir seit unserer letzten Sitzung so ein hübsches Dashboard gebaut, damit Menschen Fortschritt sehen können. Das Dashboard ist voll hübsch geworden, hier guckt mal.
Gruppenleitung: Toll, Michael. Aber jetzt lassen wir auch mal andere reden.
Zweite Person: Ja also hallo, ich bin der Willhelm und ich habe jetzt die Lösung für alle Digitalisierungsprobleme gefunden: Künstliche Intelligenz. Das müsst ihr ausprobieren, was da alles möglich ist. Alle Probleme auf einmal gelöst. Wenn ihr da die Daten der ganzen Bevölkerung und nicht der doofe Wol…
Gruppenleitung: Willhelm, was haben wir gesagt? Wir sprechen nur über unsere Probleme und projizieren unsere Verantwortung nicht auf andere.
Zweite Person: Ja. Hm, okay, eigentlich läuft das mit der Digitalisierung ganz gut bei mir, theoretisch, weil da habe ich so tolle Regeln gemacht, an die sich nur noch alle halten müssen. Das wird bestimmt toll, muss auch schnell gehen, ich habe nur noch ein Jahr Zeit dafür.
Gruppenleitung: Toll, Willhelm, wer mag denn nach dem Willhelm reden?
Dritte Person: Ja, hallo! Ich bin der Viktor, eigentlich mag ich Autos viel lieber als dieses Digitale, aber was ich gar nicht leiden kann, sind Papierfahrscheine. Im Nahverkehr. Igitt, ich wünschte, die würden alle sofort verschwinden. Diese elenden Papierfahrscheine bremse…
Gruppenleitung: Viktor, was haben wir gesagt über die Bedürfnisse anderer Menschen?
Dritte Person: Ja, okay, ich habe aber auch was für diese Menschen gemacht mit Fahrr… brr, mich schüttelts da immer …räd…ern. Also ein ganz klein wenig.
Gruppenleitung: Toll, Viktor, das ist ein Anfang. Wer aus unserer Runde hat denn noch nicht gesprochen? Otto, was ist denn mit Dir, möchtest du auch was zur Digitalisierung sagen?
Vierte Person: Bei der Digitalisierung sehen sie mich hier nicht als einen Menschen ohne Zuversicht.
Gruppenleitung: Naja, gut, Otto, zumindest hast du was gesagt diesmal.
Vierte Person: Ja.
langes Schweigen
Gruppenleitung: Ihr habt alle wieder viel gesagt seit unserer letzten Sitzung. Aber denkt daran, was wollten wir in dieser Gruppe erreichen? Digitalisierung, die auch bei den Menschen ankommt und gut umgesetzt wurde. Hat da wer von euch was erreicht, was auch wirklich gut umgesetzt wurde?
Stille, die Personen der Gruppe gucken sich lange gegenseitig an.
Gruppe: Nein, wir haben immer noch ein Umsetzungsproblem.
Willkommen in der Selbsthilfegruppe
Mit dieser imaginierten Selbsthilfegruppe der anonymen Digitialisierungspolitiker beginnt diese Episode von Degitalisierung. Sie soll sich den Menschen nähern, die politisch in Deutschland über Digitalisierung, ihre Erfolge und Misserfolge sprechen. Ähnlichkeiten zu realen Personen im Einstieg sind natürlich rein zufällig. Runden ähnlicher Konstellation sehen wir auf unterschiedlichen Veranstaltungen, die sich mit Digitalisierung beschäftigen. Sei es bei politischen Debatten, auf Fachkonferenzen für die Digitalisierung von Verwaltung oder Gesundheitswesen und zu ähnlichen Gelegenheiten.
Meist hat das oftmals den Charakter einer gemeinschaftlichen Therapiesitzung: Der Zustand der Digitalisierung wird beklagt, es wird Besserung gelobt und am Ende treffen sich die gleichen Leute wieder ein paar Monate später wieder und erzählen vom quasi das Gleiche. Fortschritt eher bescheiden, aber zumindest können Menschen drüber reden. Zwischendrin hat sich vielleicht die Technik etwas weiterentwickelt und die Buzzwords sind andere.
Wir haben ein Management-Gelaberproblem
Die Erkenntnis, dass wir in Deutschland bei allerlei Digitalem ein Umsetzungsproblem haben, ist nicht wirklich neu und wirkt damit längst arg abgedroschen. Sie wird aber immer wieder gern wiederholt, etwa vom ehemaligen Vorsitzenden des Branchenverbands bitkom, Achim Berg – schon 2018. Aber auch zuletzt vom Vorsitzenden des Deutschen Beamtenbunds Silberbach zum Digitalgipfel fünf Jahre später.
Das Bemerkenswerte an dieser Aussage ist dabei immer, dass sie oftmals von Menschen kommt, die wenig Digitalisierung Hands-on selbst umsetzen. Meist kommt diese Aussage aus der Managementebene und der politischen Entscheider*innenebene – von Menschen also, die bei der eigentlichen Umsetzung wenig aktiv beitragen, aber viel drüber reden. Nur bleibt damit oftmals der Kontakt zu den Problemen an der Basis auf der Strecke.
Geradezu heilsam sind da Runden mit Menschen von der Basis – die mit den echten Problemen in der Umsetzung, im echten Kontakt mit Bürger*innen oder Patient*innen. Das sind aber oftmals nicht die Headliner auf den Verwaltungsdigitalisierungs- oder Gesundheitsdigitalisierungskonferenzen wie der Smart Country Convention, sondern ganz „normale“ Verwaltungs- oder Gesundheitsarbeitende. Nicht besonders staatstragend, aber eigentlich am Puls der Zeit.
Schuld sind immer die Anderen
Digitalisierung und ihr Scheitern dürfen in Deutschland in solchen Diskussionen natürlich nicht ohne Schuldzuweisung diskutiert werden. Schuld sind immer die anderen, wenns nicht klappt. Gern genommen: das Feindbild Datenschutz, in der letzten Zeit bei manchen Themen personifiziert durch Ulrich Kelber. Digitalisierung geht nicht wegen Datenschutz – geht immer als Grund.
Nur leider ist das oftmals billige Projektion der eigenen Unfähigkeit oder der eigentlich notwendigen ernsthaften Beschäftigung mit Technikfolgen der eigenen Digitalisierungsbemühungen. Digitalisierung in gut ist harte Arbeit heutzutage, weil sie inzwischen in der Mitte der Gesellschaft mit ihren vielfältigen Anforderungen und Wünschen angekommen ist. Weit mehr als nur Technik oder das bloße Abarbeiten fachlicher Anforderungen oder Gesetze.
Erschwerend kommt dazu ein oftmals vorhandener Standesdünkel, der zur Überschätzung der eigenen Fähigkeiten in Bezug auf Digitalisierung führt. Leider ist dieser oftmals durchaus stärker ausgeprägt bei Jurist:innen oder Mediziner:innen – hoch gelehrte Berufsbilder zwar, aber oftmals in ihren klassischen Lehrplänen weit weg von dedizierten digitalen Kompetenzen, speziell in Informationstechnik. Oder um es mit der ehemaligen bayerischen Digitalisierungsministerin Judith Gerlach zu sagen: „Ich bin ein Digital Native und Juristin. So fällt es mir leicht, mich schnell und kompetent in neue und komplexe Themen einzuarbeiten.“
Genau diese Überheblichkeit, das mit der Digitalisierung qua Titel oder bloßer Zugehörigkeit zu einer Generation allein automatisch zu verstehen, führt meist zu gefährlichem Verhalten im Digitalen. Beispiel dafür: Im Cyber vernachlässigt die sogenannte Generation Z ihre eigene Sicherheit mehr als ältere Generationen. Aber hey, ist ja digital na(t)ive.
Ein Hauch von Diversität
Gespräche auf Bühnen über Digitalisierung haben darüber oftmals ein Diversitätsproblem. Gut erkennbar an großen Veranstaltungen wie dem Digitalgipfel der Bundesregierung. Als klassische „Wirtschaft trifft Politik“-Lobbyveranstaltung gestartet, ist man dort inzwischen zumindest bemüht, die übergreifende Bedeutung von Digitalisierung für uns als Gesellschaft auch durch die Auswahl der Teilnehmenden auszudrücken.
Wurde der Digitalgipfel 2022 erst nach leichtem Aufschrei etwas bunter und kam zu mehr zivilgesellschaftlicher Beteiligung, konnte man sich 2023 immerhin zu etwas mehr Beteiligung von Zivilgesellschaft auf Bühnen oder im Programm durchringen. Dennoch wirkt es nach wie vor so, dass Digitalisierung auf solchen Veranstaltungen primär zwischen Politik, Vertreter*innen von Verwaltung (oder Gesundheitswesen) und Herstellern von allerlei digitalen Produkten stattfindet. Die eigentlich primär von den Folgen von Digitalisierung betroffene Bevölkerung ist da eher Zaungast. Zivilgesellschaft darf immerhin organisiert mitmachen, wenn sie nicht zu kritisch ist.
Fehlende Fehlerkultur
Kritisch sein im Hinblick auf den Zustand der eigenen Digitalisierung ist aber ohnehin nicht unbedingt die Stärke speziell der öffentlichen Verwaltung. Dieses „den Zustand nicht konstruktiv kritisch Beklagen dürfen“ wird oftmals aus dem Grundgesetz hergeleitet, Artikel 33 Absatz 5: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.“
Kritik an den eigenen digitalen Leistungen der Behörde kann da schnell als Nicht-Loyalität gewertet werden. Also sagt die (immer seltener werdende) Beamt*in lieber nichts, so zumindest die klassische Verhaltensweise. Diese Art, Probleme nett und diplomatisch zu umschreiben, findet sich dann immer wieder in Veranstaltungen, speziell mit politischem Bezug, wie dem schon erwähnten Digitalgipfel. Also werden nur vermeintliche Erfolge präsentiert, alle fühlen sich in der richtigen Attitude für Veränderung zum Besseren und verfolgen dann den Kanzler aus der Distanz, wie er auf Dinge guckt.
Geradezu heilsam wäre da vielleicht etwas mehr – Achtung, nicht erschrecken – Start-Up Attitude. Zumindest auf die Fehlerkultur bezogen, etwa in Fuck up Nights. Menschen erzählen einen Abend lang über ihre größten Fehler, Fails und Fuck ups. Kommt eigentlich aus Mexiko, aber täte vielleicht auch der Verwaltung in Deutschland ganz gut. Bei tausenden Kommunen in Deutschland sollten eigentlich alle Fehler in der Digitalisierung schon mehr als einmal gemacht worden sein. Aus diesen unzähligen Erkenntnissen gespeist, sollte die Digitalisierung der Verwaltung in Zukunft problemlos vorangehen.
Nur erfordert das Transparenz, Eingestehen des eigenen desolaten Zustands und das Zulassen von Impulsen von außen. Aber von dort an: Es kann nur besser werden. So rein digital. Aber mehr zu unseren Erlebnissen und Erfolgen besprechen wir dann in der nächsten Sitzung.
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Author: Bianca Kastl