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Datenmaut für Netflix & Co: Thierry Bretons Schnapsidee macht weltweit Schule

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Populäre Internet-Dienste wie Netflix und YouTube sollen sich am europäischen Breitbandausbau beteiligen, fordern große Netzbetreiber. Die umstrittene Idee stößt vor allem beim französischen EU-Kommissar Thierry Breton auf offene Ohren. Bislang liegt noch kein Gesetzentwurf vor – aber der Schaden ist bereits weltweit angerichtet.
Der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton treibt die Idee einer Datenmaut für populäre Internet-Dienste voran. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ABACAPRESSNoch gibt es gar keinen konkreten Vorschlag, doch die Idee zieht schon weite Kreise. Seit über einem Jahr überlegt die EU-Kommission, allen voran der französische Binnenmarktkommissar Thierry Breton, bei populären Internet-Diensten wie Netflix oder YouTube extra abzukassieren, um damit – so die Argumentation – den Breitbandausbau mitzufinanzieren. Von dem Ansatz lassen sich nun offenkundig andere Länder und Regionen inspirieren, etwa Indien, Brasilien und manche karibische Inseln.
Neu ist dieses Modell nicht, es wurde wiederholt in den 1990er-Jahren und zuletzt vor rund zehn Jahren diskutiert – und jedes Mal aus den gleichen Gründen verworfen. Eine derartige Datenmaut birgt die Gefahr, das offene Internet nachhaltig zu beschädigen. Denn Netzbetreiber würden damit enorm viel Macht darüber erhalten, welche Internet-Dienste zu welchen Bedingungen ihre Nutzer:innen erreichten und ob überhaupt.
Von diesem Argument, das unter anderem auch europäische Regulierungsbehörden vertreten, lassen sich aber vor allem große Netzbetreiber nicht beeindrucken. Aus ihrer Sicht verursachen einige wenige Internet-Dienste den Löwenanteil des jährlichen weltweiten Datentransfers, während sie auf den Kosten der Auslieferung sitzen bleiben würden.
Mit Verweisen auf den Digital Markets Act, der diskriminierenden Geschäftspraktiken im digitalen Raum einen Riegel vorschieben soll, verkaufen sie die alte Debatte nun unter dem Schlagwort „Fair Share“: Alle im Internet-Ökosystem sollten ihren fairen Beitrag dazu leisten, fordern die Unternehmen. Fair Share, das soll irgendwie gerecht klingen.
Indien prüft Datenmaut
In die selbe Kerbe schlagen sie in Indien. Dort ging kürzlich eine öffentliche Konsultation zu Ende. Hierbei lotet die Regulierungsbehörde TRAI unter anderem die quasi-Besteuerung sogenannter „Over The Top“-Anbieter (OTT) wie Netflix oder WhatsApp zu Gunsten der Netzbetreiber aus. Die Beteiligung war rege, eingegangen sind über 200 Stellungnahmen.
So fordert etwa der Lobbyarm der Mobilfunkanbieter, GSMA, von den Anbietern datenintensiver Internet-Dienste einen „fairen Beitrag zu Investitionen in die Netze über einen angemessenen Verteilungsmechanismus“. Teils fast wortgleich liest sich die Eingabe des Netzbetreibers Reliance Jio, der gleiche Wettbewerbsbedingungen („level playing field“) verlangt. Das mit über 450 Millionen Kund:innen größte Telekommunikationsunternehmen Indiens gehört zum umstrittenen Firmenimperium des reichsten Manns Asiens, Mukesh Ambani.
Auf der Gegenseite stehen vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen. Beispielsweise warnt die indische Internet Freedom Foundation unter anderem vor der Abschaffung der Netzneutralität, was die Folge des von den Betreibern vorgeschlagenen Modells wäre.
Zudem kann sie, wie übrigens auch das deutsche Digitalministerium, kein Marktversagen erkennen, mit dem sich ein derart folgenschwerer Eingriff ins Internet rechtfertigen ließe. „Anstatt die Unternehmensgewinne sowohl von Telekommunikations- als auch von OTT-Anbietern zu schützen, sollte das Ziel der Regulierung darin bestehen, den Interessen der Öffentlichkeit zu dienen“, schreibt die Internet Freedom Foundation.
Thierry Breton als Treiber der Debatte
An der Konsultation hat sich auch die österreichische NGO epicenter.works beteiligt – und sich auch in Brasilien eingebracht, wo Zugangsgebühren für OTTs derzeit ebenfalls beäugt werden. Die Schuld dafür, warum sich die Debatte inzwischen weltweit ausgebreitet hat, verortet ihr Experte für Netzneutralität, Thomas Lohninger, ganz klar beim EU-Binnenmarktkommissar.
„Thierry Breton hat sich darüber hinweggesetzt, wie Gesetze normalerweise in Europa gemacht werden – und egal, wie die Debatte in Europa ausgeht, der Schaden für andere Weltregionen ist leider bereits eingetreten“, schreibt Lohninger an netzpolitik.org.
Tatsächlich ist das bisherige Vorgehen in der EU äußerst undurchsichtig. So findet sich die Datenmaut in keinem Arbeitsprogramm der EU-Kommission, die Ergebnisse der Anfang des Jahres durchgeführten Konsultation bleiben, anders als versprochen, weiterhin unter Verschluss, und dutzende Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz hat die Kommission bislang abgewiesen oder rigoros geschwärzt.
Wenn etwas durchsickert, dann sind das bestenfalls Halbsätze etwa in LinkedIn-Beiträgen von Breton. Jüngst erwähnte er dort beiläufig einen ominösen „Telecoms Act“, der angeblich in Vorbereitung sei. In ihrer gestrigen Grundsatzrede verlor die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu kein Wort.
„Dagegen wirkt Oettinger kompetent und integer“
„Als ehemaliger CEO von France Télécom, der nun als Kommissar alle Regeln bricht, um seinen früheren Geschäftsfreunden zu helfen, hat Breton dem Ansehen der EU massiv geschadet“, sagt Lohninger. Und der langjährige Aktivist, der die Entstehung der EU-Regeln zur Netzneutralität eng begleitet hatte, legt nach: „Man konnte es sich nicht vorstellen, aber im Vergleich mit Breton wirkt sogar Günther Oettinger wie ein kompetenter und moralisch integrer Politiker.“
Dabei könnten sich die EU und Breton umgekehrt von Südkorea inspirieren lassen. Dort hat die Regierung vor Jahren ein sogenanntes „Sending-Party-Network-Pays“ ausgerollt, OTTs müssen also bezahlen, um ihre Nutzer:innen gut zu erreichen.
Der erwünschte Effekt ist im einstigen Internet-Vorzeigeland jedoch nicht eingetreten, im Gegenteil: OTTs haben sich aus dem Markt zurückgezogen oder haben die Qualität ihrer Angebote herabgesetzt, der Wettbewerbsdruck hat sich verringert, und kleine Anbieter klagen über hohe Zugangsbarrieren. Nach einem Erfolgsmodell klingt das nicht.

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Author: Tomas Rudl

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