Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Die Befürworter einer Chatkontrolle argumentieren damit, Kinder und Jugendliche vor Missbrauch im Netz schützen zu wollen. Doch was sagen eigentlich Betroffene dazu? Dorothée Hahne vom Verein MOGiS berichtet von ihren Erfahrungen im Kampf gegen das Überwachungsinstrument.
Fans der Chatkontrolle wollen keine Kritik hören (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Johannes KrupinskiAuch wenn sich die Abstimmung im Rat verzögert, arbeitet die EU weiter an einer sogenannten Chatkontrolle. Der Vorschlag für eine „Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ enthält die Pflicht für Anbieter, auf Anordnung private Daten ihrer Nutzenden zu scannen. So sollen sie nach Hinweisen auf Missbrauchsdarstellungen und Grooming suchen.
Der Vorschlag ist höchst umstritten, er wird etwa von Bürgerrechtsorganisationen, Rechtsexpertinnen oder Datenschutzbeauftragten scharf kritisiert. Auf der anderen Seite steht eine große Lobby selbsternannter Kinderschützer. Es ist wichtig, sich deren Vorgehen genau anzusehen. Inzwischen sind dank der Recherchen des investigativen Journalistenteams um Giacomo Zandonini und anderer zahlreiche höchst beunruhigende Fakten veröffentlicht worden, wer an einer Chatkontrolle verdienen würde und wie Lobbyorganisationen und EU-Gremien verstrickt sind.
Betroffene ein- und wieder ausgeladen
Wie fragwürdig, ja im Grunde undemokratisch, manche Befürworter des EU-Gesetzesvorschlags vorgehen, zeigt auch die folgende Begebenheit:
Am 13. April 2023 erhielt MOGiS eine Einladung zu einem Parlamentarischen Abend des Deutschen Bundestages am 10. Mai 2023 zum Thema „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder beenden – Hilfe und Gerechtigkeit für die Opfer!“. Der Verein MOGiS wurde im April 2009 als Stimme für Betroffene gegründet und steht für „Missbrauchsopfer gegen Internetsperren“. Auslöser war der Versuch der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, eine grundrechtswidrige Zensurtechnik im Internet zu legitimieren – unter dem Vorwand, gegen Darstellungen von Kindesmissbrauch vorzugehen.
Nach dem gescheiterten Zensurversuch arbeitete MOGiS weiter und konnte zuletzt in Brüssel zwei Mal im EU-Parlament als Sachverständige die eigene Expertise zur Chatkontrolle einbringen.
Als Sprecherin für den Parlamentarischen Abend war neben der EU-Kommissarin Ylva Johansson und der Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Kerstin Claus unter anderem auch eine Vertreterin von „Brave Movement“ angekündigt. Ich war ihr bereits im EU-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) begegnet. Ihre Argumentation dort zielte auf emotionale Betroffenheit. Die Zahlen, mit denen sie für das geplante EU-Gesetzesvorhaben warb, konnten mit einfachen, klaren Fakten leicht entkräftet werden .
Vor allen Augen abgeführt
Zur Veranstaltung in Berlin meldete ich mich an und reiste ich quer durchs Bundesgebiet. Doch trotz einer nochmaligen „herzlichen Erinnerung“ zum Termin am Vortag der Veranstaltung wurde ich am Eingang nicht nur abgewiesen, sondern von einem Menschen in Uniform vor den Augen der anderen Wartenden abgeführt und des Ortes verwiesen.
Der Veranstalter (Eckiger Tisch e. V. und „Brave Movement“) ließ mir mitteilen, dass meine Teilnahme unerwünscht sei. Das schockierte mich. Ich verließ sofort den Ort des Geschehens. Beim Lesen meiner E-Mails stellte ich fest, dass ich etwa zwei Stunden vor Beginn eine Absage der Veranstaltungsagentur bekommen hatte. Mit der Aufforderung, nicht zu erscheinen, da ich „ein Sicherheitsrisiko darstelle…“.
Warum, kann ich nur mutmaßen. Vielleicht weil faktenbasierte, demokratische Kritik die „parlamentarische Werbeveranstaltung“ gestört hätte und verhindert werden musste, obwohl ich doch nur als Zuhörerin eingeladen war. Auf Nachfrage wurde mir vom Veranstalter mitgeteilt, dass man eine Woche vor der Veranstaltung „Hinweise“ erhalten habe, dass MOGiS solche Veranstaltungen nutzen würde, um zu stören. Doch wann genau das gewesen sein soll und von wem solche Vorwürfe stammen, blieb auch auf Nachfrage ungeklärt.
Dass sich die Veranstalter derart instrumentalisieren, um nicht zu sagen missbrauchen lassen, ist schon absurd genug. Dass darüber hinaus auch noch offensichtliche Verleumdungen als Begründung für eine derart öffentlichkeitswirksame Diffamierung unseres Vereins herangezogen werden, hat mein Misstrauen gegenüber den Handlungen der öffentlichen Befürworter der sogenannten „Chatkontrolle“ mehr als bestätigt.
Diffamierung von Chatkontrolle-Kritik
Bereits in der Expertenanhörung der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament berichtete Diego Naranjo, Leiter der politischen Abteilung bei European Digital Rights (EDRi), dass auch EDRi regelrechten Diffamierungskampagnen ausgesetzt ist, in denen etwa behauptet wird, die Organisation verhalte sich undemokratisch und destruktiv.
Die Initiatoren und Befürworter der geplanten „EU-Chatkontrolle“ versuchten also wiederholt, sachliche und demokratisch notwendige Kritik zu unterbinden, anstatt sie in den Diskurs einzubeziehen.
MOGiS überzeugt lieber konstruktiv mit Fakten und wird dies trotz allem auch in Zukunft so fortsetzen. Denn seit 2009 konnten wir als eine Stimme für Betroffene mit sachlichen und fachlich fundierten Vorschlägen viel Positives bewegen. Dazu gehört die Einbeziehung von Betroffenen an den Runden Tisch der Bundesregierung, die Einrichtung der Hilfs- und Entschädigungsfonds für Missbrauchsbetroffene oder die Inklusion betroffenengerechter Sprache in Beschlüsse der EU. Unsere inzwischen leider verstorbene ehemalige Vorsitzende Gabriele Gawlich wurde für ihr Engagement sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Ich möchte aber nicht nur darauf eingehen, wie die Befürworter uns als Betroffene ignorieren, sondern auch, welche negativen Auswirkungen die geplante Regelung selbst für uns hätte.
Verschlüsselung für sichere Räume
Es beginnt damit, dass die Durchbrechung einer funktionierenden Ende-zu-Ende Verschlüsselung unsere sicheren Räume zerstört. Das sind Räume, die gerade in den letzten 15 Jahren geholfen haben, uns aus der Einsamkeit unserer eigenen Schicksale zu befreien und zu begreifen: Nicht wir sind falsch – was mit uns getan wurde, ist falsch! Der dazu nötige offene und vertrauensvolle Austausch ist online ohne vertrauliche und sichere elektronische Kommunikationsmittel nicht möglich.
Erheblicher Schaden entsteht auch dadurch, dass die geplante EU-Gesetzgebung die bisher erfolgreichen Systeme zur Löschung von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs im Netz in der geplanten EU-Gesetzgebung nicht berücksichtigt. Die stammen beispielsweise von INHOPE oder auch Eco. 100 Prozent der gemeldeten Fälle in Deutschland werden im Durchschnitt innerhalb von 2,8 Tagen gelöscht, weltweit sind es 98,5 Prozent innerhalb von rund 7 Tagen. Wir befürchten , dass die bisher über Jahre aufgebauten, funktionierenden Systeme zur Beseitigung von Missbrauchsdarstellungen im Internet zerstört werden.
Auch die prognostizierte Fehlerquote von etwa 3 bis 5 Prozent bei strafrechtlich relevanten Meldungen des automatisierten „Chatkontrollsystems“ bedeutet bei circa 460 Millionen aktiven Internetnutzenden in der EU unzählige Falschmeldungen, die auf den Tischen von Ermittlungsbehörden landen. Jede davon kann zur Schädigung oder Zerstörung einer Existenz führen. Und jede und jeder kann davon betroffen sein, denn das geplante Kontrollsystem ist technisch inakzeptabel fehleranfällig.
Nicht nur MOGiS plädiert stattdessen für ein einfaches Meldesystem in allen Online-Kommunikationstools mit einem Klick. Nutzer müssen Missbrauch und andere strafbaren Inhalten „kinderleicht“ melden können.
Falsch-positive Meldungen sind ein Problem
Auch die Konsequenzen für die Strafverfolgungsbehörden müssen aufgezeigt werden, denn sie müssen jede Meldung prüfen, auch wenn sie falsch ist. Und auch das muss finanziert werden. Laut Markus Hartmann, Leitender Oberstaatsanwalt der Zentralstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW), wird die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden durch Falschmeldungen erschwert – Fachleute nennen es „blinded by the light“
Zudem lenken solche technischen Maßnahmen zur Lösung sozialer Missstände erheblich vom Kern ab: Ohne eine systematische Missbrauchsprävention, die notwendige Vermittlung von Medienkompetenz sowie eine flächendeckende und geförderte Struktur von Hilfs-, Beratungs- und Therapieangeboten wird die Zahl der Täter nicht zurückgehen.
Dass die absehbar riesige Sammlung von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs zum regelmäßigen Trainieren einer KI in einem geplanten EU-Zentrum vor unbefugtem Zugriff sicher sein wird, ist für mich nach ersten Einblicken in bereits vorhandene technische Umsetzungen durch KI- und Microsoft-Cloud-basierte Strafermittlungsverfahren alles andere als selbstverständlich.
Wir brauchen flächendeckende Prävention und Hilfsangebote
Ich wünsche mir, dass die vielen Millionen Euro, die eine EU-Chatkontrolle verschlingen, in flächendeckende Prävention, Aufklärung, Hilfs- und Therapieplätze investiert werden.
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt: Es werden politisch gerne Maßnahmen vorgeschlagen, die Kosten bei Dritten erzeugen, aber möglichst keine Staatsausgaben – in den Gesetzesvorhaben steht nicht selten bei der Kostenbewertung: „keine“. Bloß keine staatlichen Kosten erzeugen, sei es bei investigativer Polizeiarbeit vor Ort oder auch bei echten Hilfen für die jetzt bereits existierenden Betroffenen von Kindesmissbrauch.
Bei MOGiS sind wir durch persönliche Erfahrungen für Grenzüberschreitungen sensibilisiert und fragen uns: Wer garantiert, dass ein solches Massenüberwachungssystem nicht zukünftigen undemokratischen Machthabern dienlich ist? Wie soll die „Chatkontrolle“ vor solchem Missbrauch geschützt werden? Darüber liest und hört man nichts!
Hört die Betroffenen!
Obwohl vielfach und immer wieder belegt ist, dass sexueller Kindesmissbrauch vor allem im engsten sozialen Umfeld von Kindern – Familie, Freundeskreis, Schule, Sport, Kirche, etc. – stattfindet, wird das geplante EU-Gesetz, das die anlasslose Überwachung der gesamten Online-Kommunikation in der EU legitimieren soll, als Patentlösung präsentiert, die Kindesmissbrauch stoppen soll.
Unterfinanzierte, meist ehrenamtlich organisierte Initiativen von Betroffenen werden ignoriert und ein mit Millionen finanziertes „Brave Movement“ wird kurz vor Veröffentlichung des EU-Gesetzesvorschlags als vereinte Stimme aller Betroffenen im vermeintlich einstimmigen Schrei nach Totalüberwachung aus dem Hut gezaubert!
Wenn auch vermutlich nicht vorsätzlich: Letztlich spielen Ursula von der Leyen, Ylva Johansson und ihre Mitstreitenden somit den Gegnern der EU und damit dem EU-weiten und weltweiten Erstarken von Populisten mit totalitären Neigungen in die Hände.
Dorothée Hahne ist Mitbegründerin und Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes von „MOGiS e. V. – eine Stimme für Betroffene“. Außerdem ist sie Vertreterin des Facharbeitskreises Sexueller Missbrauch.
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen. Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.
Zur Quelle wechseln
Zur CC-Lizenz für diesen Artikel
Author: Gastbeitrag