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Für Ylva Johansson könnte eine Werbekampagne für die Chatkontrolle Ärger bedeuten. Die EU-Innenkommissarin hat politisches und religiöses Microtargeting auf Twitter genutzt, um irreführende Werbevideos zu schalten. Nun startet der EU-Datenschutzbeauftragte deswegen Voruntersuchungen.
Bei der Chatkontrolle greift die EU-Innenkommissarin zu umstrittenen Mitteln. (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / TTDie sozialdemokratische EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat laut Medienberichten auf der Plattform X/Twitter Microtargeting genutzt, um für die Chatkontrolle zu werben. Die EU-Kommission hatte dafür in Ländern, die im Rat der EU gegen die Chatkontrolle sind, in der jeweiligen Landessprache Werbung geschaltet, deren Informationen auf einer umstrittenen Meinungsumfrage beruhen.
Gleichzeitig hatte die Kommission bestimmte Zielgruppen nach politischen und religiösen Kriterien von der Werbeanzeige ausgeschlossen. Diese Form der Werbung ist spätestens nach dem Cambridge-Analytica-Skandal und dem Brexit wegen möglicher Manipulationen in der Kritik, die EU selbst will solche Werbung strenger regulieren. Die Verhandlungen dazu sind derzeit im Trilogverfahren.
Nun schaltet sich der EU-Datenschutzbeauftragte in den Fall ein, denn die Nutzung von Microtargeting könnte gegen die Datenschutzgrundverordnung verstoßen. Darüber hatte am Sonntag der ehemalige Brüssel-Korrespondent von netzpolitik.org, Alex Fanta, berichtet.
Voruntersuchung eingeleitet
Ein Sprecher des EU-Datenschutzbeauftragten (EDPS) wollte gegenüber netzpolitik.org den Fall noch nicht näher bewerten. Allerdings hat sich die Behörde im Rahmen eines Voruntersuchungsverfahrens „an die Europäische Kommission gewandt und um Informationen im Zusammenhang mit dem beschriebenen Einsatz von mikrogezielter Werbung gebeten, die bis zum 20. Oktober vorgelegt werden sollen“.
Laut dem Sprecher stellt dieser Schritt noch keine Einleitung einer förmlichen Untersuchung dar. Der EU-Datenschutzbeauftragte „wird die Informationen, die er von der Kommission erhält, bewerten und entsprechend über die möglichen nächsten Schritte entscheiden“, so der Sprecher weiter.
Wegen der Sache gibt es eine parlamentarische Anfrage (Vorab-PDF) der niederländischen EU-Abgeordneten Sophie in’t Veld. Der Piratenabgeordnete Patrick Breyer forderte unterdessen auf Mastodon, dass der Fall im Parlament behandelt werden und sich die EU-Kommissarin dort äußern solle. Laut einer Presseerklärung von Breyer wird die Grüne EP-Fraktion heute „eine Erklärung des Rates und der Kommission zu diesen Rechtsverstößen und der Lobbyarbeit von Kommissarin Johansson im Amt fordern“.
Johansson selbst hat auf Twitter verkündet, dass die Werbung „100% legal“ gewesen und „normale Standardpraxis“ sei.
In den Transparenzberichten von Twitter entdeckt
Aufgedeckt hat die umstrittene Werbeaktion der niederländische Jurist und Digitalexperte Danny Mekić: Er recherchierte dafür in den Transparenzberichten von X, in denen die Plattform Details zu politischer Werbung auflisten muss. Laut seinem Gastbeitrag im niederländischen Volkskrant – hier eine englischsprachige Version auf seiner Website – wurde die Kampagne für die Chatkontrolle ab dem 15. September geschaltet. Das war einen Tag, nachdem klar wurde, dass der Vorschlag des Rates keine Mehrheit unter den Mitgliedstaaten hat. Die Kampagne soll in den Niederlanden, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal und der Tschechischen Republik mehr als drei Millionen Mal ausgespielt worden sein.
Auch die Inhalte der Werbung sind irreführend. Sie stützen sich auf umstrittene Meinungsumfragen der EU-Kommission selbst (PDF), bei der hohe Zustimmungswerte zur Chatkontrolle suggeriert werden. In der Fragestellung wurden die negativen Auswirkungen allerdings nicht erwähnt und sehr allgemein gefragt, ob Missbrauchsbilder online gesucht werden sollten. Andere Umfragen zur Chatkontrolle wie die von Novus oder YouGov zeichnen ein komplett anderes Meinungsbild.
Ylva Johansson steht nicht nur wegen des Microtargetings in der Kritik. Zuletzt hatten investigative Recherchen ergeben, dass die EU-Innenkommissarin eine große Nähe zu Lobbynetzwerken hat, die auch mit finanziellen Interessen für die Chatkontrolle werben. Johansson war auch schon in der Vergangenheit mit Falschinformationen und irreführenden Aussagen zur Chatkontrolle aufgefallen.
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Author: Markus Reuter