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Bundesjustizministerium: Ein Jahr kein Digitale-Gewalt-Gesetz
Das Justizministerium will in seinem Eckpunkten zu einem Digitale-Gewalt-Gesetz auch Unternehmen schützen. Gerichtsentscheidungen machen deutlich, dass dieser Plan nicht mit dem Europarecht vereinbar ist. Ob und wann es zu einem Gesetz kommt, das Betroffene von digitaler Gewalt schützt, ist offen.
Vor einem Jahr machte das Justizministerium (BMJ) den ersten Schritt zu einem Gesetzesvorhaben, das im Koalitionsvertrag vereinbart ist und veröffentlichte auf seiner Website zunächst „Eckpunkte für ein Gesetz gegen digitale Gewalt“. Kurz darauf, am 25. April 2023, folgten Erläuterungen dazu.
Ziel des geplanten Gesetzes sollte sein, dass Betroffene von digitaler Gewalt auf Plattformen und Messengern Täter*innen leichter identifizieren und dadurch zivilrechtlich gegen sie vorgehen können. Von Fachverbänden wie NGOs wurden die Eckpunkte breit kritisiert. Das Verfahren werde erwartbar viel zu lange dauern und helfe kaum in typischen Fälle massenhafter Angriffe durch ständig wechselnde Accounts, sogenannte Shitstorms.
Außerdem: Einerseits seien manche Bereiche digitaler Gewalt in den Eckpunkten überhaupt nicht berücksichtigt, andererseits schließt die Definition des BMJ von digitaler Gewalt auch Unternehmensrechte mit ein. Ein Beispiel dafür sind die explizit erwähnten Restaurantkritiken, also wenn Nutzer*innen ein Unternehmen auf einer Online-Plattform unwahr bewerten und ihm damit schaden.
Nach der Veröffentlichung der Eckpunkte und der ausführlichen Kritik wurde es still um die Pläne des BMJ. Obwohl ein erster Referentenentwurf ursprünglich für Herbst 2023 angekündigt war, hat sich seitdem nichts Sichtbares mehr getan.
Gerichte bringen Plan des Justizministeriums zu Fall
Auf Anfrage, ob und wann mit weiteren Schritten zu rechnen sei, antwortet das BMJ, dass der Referentenentwurf „derzeit erarbeitet“ werde, einen konkreten Zeitpunkt für die Vorlage gebe es aber noch nicht. Es müsse „die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vom 9. November 2023 zum Herkunftslandprinzip und des Bundesgerichtshofs vom 28. September 2023 zur internationalen Zuständigkeit berücksichtigt werden.“
Die entsprechende Prüfung, so das BMJ, dauere noch an. Doch worum geht es in den beiden Entscheidungen?
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte im September 2023 entschieden, dass unwahre Bewertungen im Netz nicht dazu berechtigen, die Herausgabe von Bestandsdaten zu verlangen – wenn dies vor einem deutschen Gericht beantragt wird, aber Daten im EU-Ausland betrifft. Im konkreten Fall ging es um eine Auseinandersetzung zu Bewertungen bei Amazon mit Sitz in Luxemburg.
Das BMJ muss also seine Idee, auch falsche Restaurantbewertungen als Digitale Gewalt zu definieren, nun möglicherweise aufgeben. Denn in den Eckpunkten geht es zentral darum, in Fällen digitaler Gewalt die Herausgabe der Bestandsdaten von Täter*innen (Name, Anschrift, weitere Kontakt- und Zugangsdaten) zu erreichen, um diese dann zivilrechtlich verklagen zu können.
Deutschland kann nicht einfach etwas vorschreiben
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom November 2023 besagt, dass ein Mitgliedstaat dem Anbieter einer Kommunikationsplattform, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, keine „generell-abstrakten Verpflichtungen“ auferlegen darf.
Die grundsätzliche Aufsicht über ein Unternehmen liegt gemäß dem Herkunftslandprinzip bei dem EU-Land, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Das bedeutet, dass die in den Digitale-Gewalt-Eckpunkten vorgesehenen Zustellungsbevollmächtigten nicht wie geplant vorgeschrieben werden können.
Dieses Problem gab es bereits im Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das jetzt aber durch die Umsetzung des Digital Services Acts aufgehoben wird.
Das Urteil des EuGH stellt nun die Konstruktion des geplanten Gesetzes in Frage. Die Idee des BMJ beruht darauf, Anbieter von Plattformen dazu zu verpflichten, bei der Erlangung von Bestandsdaten behilflich zu sein – und zwar explizit auch in Fällen, bei denen Unternehmen falsch bewertet werden. In den meisten Fällen haben diese Plattformen ihren Sitz außerhalb Deutschlands.
Zu befürchten ist, dass das Justizministerium weiter daran festhält, mit dem Digitale-Gewalt-Gesetz auch die Rechte von Unternehmen schützen zu wollen und nun noch länger darüber nachdenkt, wie das angesichts der Entscheidungen von BGH und EuGH zu bewerkstelligen wäre.
Hilfe für Betroffene in den Fokus nehmen
Eine sinnvolle Möglichkeit wäre, wenn sich das Justizministerium nun von der Idee verabschiedete, bösartige Restaurantkritiken als digitale Gewalt zu definieren und die Lösung primär darin zu sehen, die Anonymität von Täter*innen aufzuheben. Wie Betroffenen tatsächlich geholfen werden könnte und müsste, hatte der Juristinnenbund letztes Jahr ausführlich am Beispiel bildbasierter Gewalt beschrieben.
„Das Bundesjustizministerium ist jetzt gefordert, genau zu prüfen, welche Auswirkungen die beiden Entscheidungen auf das Vorhaben für ein Gesetz gegen digitale Gewalt haben und dann einen Vorschlag vorzulegen, der dem Rechnung trägt“, kommentiert Benjamin Lück von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) diese Entwicklung. Und ergänzt:
Dabei darf man nicht vergessen, dass die bisher vorgelegten Eckpunkte auch an anderen Stellen und dabei gerade bei der Regelung zu Accountsperren Lücken aufweisen. Sie verhalten sich bislang insbesondere nicht zu volksverhetzenden Inhalten.
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte hatte einen eigenen Diskussionsentwurf für Accountsperren eingebracht. Bei hetzerischen Inhalten sollen demnach sowohl Personen aus betroffenen Gruppen eine Accountsperre bei Gericht beantragen können, als auch Verbände als Vertreter*innen der Gruppen.
Josephine Ballon von Hateaid hofft, dass das Vorhaben nicht aufgegeben wird, Betroffenen von digitaler Gewalt Werkzeuge zur Identifizierung von Täter*innen zu geben. Aus ihrer Erfahrung berichtet sie: „Wir erleben es nicht zum ersten Mal, dass Zuständigkeitsregeln die Rechtsdurchsetzung für Nutzende in sozialen Netzwerken erschweren. Wir arbeiten intensiv daran, Möglichkeiten einer europarechtskonformen Ausgestaltung auszuloten.“
Abgeordnete fordern Referentenentwurf
Im Parlament wie bei Fachverbänden löst die Verzögerung seitens des BMJ Fragezeichen aus. Die Parlamentarierinnen der Regierungskoalition bauen darauf, dass es das Gesetz noch geben wird. Laut Carmen Wegge (SPD) sei man „im regen Austausch mit dem Justizministerium“ und wisse, „dass hinter den Kulissen fleißig am Gesetz gegen digitale Gewalt gearbeitet wird.“ Sie sei zuversichtlich, bald über einen konkreten Entwurf sprechen zu können. Wann genau, sagt sie jedoch nicht.
Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) findet, dass es ein Gesetz gegen digitale Gewalt „besser heute als morgen geben“ sollte:
Das BMJ muss jetzt aktuelle Rechtssprechung auswerten und möglichst zügig einen guten Entwurf vorlegen, damit wir ihn im Parlament zügig verabschieden können. Wir brauchen eben auch dieses Instrument angesichts des massiven und systematischen Drucks der zum Beispiel auf Kommunalpolitik ausgeübt wird. Das gefährdet unsere Demokratie.
Die Opposition ist erwartbar skeptischer. Günter Krings, CDU/CSU, meint, es entspreche „ja dem Arbeitstempo dieser Regierung, dass seit der Vorstellung der Eckpunkte vor einem Jahr kein konkreter Gesetzentwurf vorgelegt worden ist.“
Anke Domscheit-Berg (Die Linke), fürchtet, dass es nur noch zwei realistische, aber schlechte Möglichkeiten gebe:
Entweder einigt sich die Koalition, doch noch und dann gibts ein Digitale Gewaltschutzgesetz, das diesen Namen nicht verdient, weil es viele Gewaltformen überhaupt nicht adressiert und am Ende mehr schadet als nutzt. Oder aber das Vorhaben scheitert komplett, dann gibts gar kein Gesetz und auch künftig zu wenig Schutz vor digitaler Gewalt vor allem für Frauen und Mädchen und allgemein Menschen, die ohnehin schon diskriminiert werden, sowie marginalisiert und unterrepräsentiert sind.
Unklarheit über die Entwicklung des vereinbarten Gesetzes
Allgemein herrscht Unklarheit, ob und wie die umfangreiche Kritik der Stellungnahmen aus dem vergangenen Sommer im Entwurf berücksichtigt werden wird. Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) drängt: „Ein Gesetz, was digitale Gewalt umfassend und betroffenenzentriert regelt wäre erfreulich. Aus den veröffentlichten Eckpunkte geht allerdings hervor, dass es bis dahin noch eine lange politische Debatte braucht. Gleichzeitig wird dafür die Zeit in der laufenden Legislaturperiode knapp.“
Auch Domscheit-Berg von den Linken sieht große Schutzlücken jenseits der Eckpunkte, etwa bei der Finanzierung von Beratungsstellen und Frauenhäusern oder auch dem Thema bildbasierter Gewalt.
Renate Künast hält die grundsätzliche Richtung der Eckpunkte grundsätzlich insofern für sinnvoll, „als dass die wichtige Instrumente zur Stärkung der Betroffenen enthalten waren“. Der Fokus solle jedoch “klar auf digitaler Gewalt statt zum Beispiel Restaurantkritiken liegen“. So sei das Gesetz „ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Hass und Bedrohungen im Netz. Wir werden aber weiter darüber diskutieren müssen, wie das Recht mit den Entwicklungen im Netz mitwachsen kann.“
Auch die SPD ist grundsätzlich mit den Eckpunkten einverstanden. Carmen Wegge, SPD, meint aber, bisher habe „die feministische Perspektive gefehlt. Daher wollen wir die Strafbarkeitslücken bei bildbasierter Gewalt schließen. Das digitale Gewaltschutzgesetz muss einen echten Mehrwert speziell für Frauen haben, da sich zum Beispiel häusliche Gewalt häufig im Digitalen fortsetzt. Zu all diesen Themen sind wir in guten Gesprächen und ich bin zuversichtlich, dass wir ein gutes digitales Gewaltschutzgesetz bekommen werden“.
Die Zeit wird knapp
Günter Krings, CDU/CSU, findet eine allein auf das Zivilrecht fokussierende Regelung nicht ausreichend: „Die Verbesserung der privaten Rechtsdurchsetzung darf insofern nicht dazu führen, dass Opfer von Hasskriminalität ausschließlich auf ihre eigenen zivilrechtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten verwiesen werden.“ Ob das bedeutet, dass die Union wie gehabt eine Ausweitung des Strafrechts fordert oder aber eine bessere Unterstützung der Opfer in zivilrechtlichen Verfahren, lässt er offen.
In weniger als anderthalb Jahren wird der Bundestag neu gewählt, und damit läuft jetzt die Zeit für die noch nicht umgesetzten Vorhaben des Koalitionsvertrags. Wenn es nicht bald einen Referentenentwurf gibt, der dann ja noch mit den Koalitionspartnern verhandelt und durch das parlamentarische Verfahren gebracht werden muss, wird es knapp für das Digitale-Gewalt-Gesetz.
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Author: Anne Roth