Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Breakpoint: Schluss mit brat, gib mir Info
Zu wenige junge Menschen interessieren sich für Nachrichten. Das liegt auch an einem dürftigen Medienangebot für diese Zielgruppe, findet unsere 18-jährige Kolumnistin. Statt über jeden neuen Social-Media-Trend zu berichten, sollten Journalist:innen relevante Inhalte adressatengerecht aufbereiten.
Man ist „brat“, „demure“, hat einen „hot girl summer“ oder verzehrt ein „girl dinner“ – und fast alle berichten darüber. Ob in der ARD, der FAZ, der Süddeutschen, der Zeit, dem Focus oder dem Spiegel: Überall schreiben Journalist:innen schier unermüdlich über täglich neue Trends in den sozialen Medien.
Nahezu jeden Tag werden mir Beiträge über neue Trends auf TikTok, Instagram und Co. in meine Timeline gespült. Ich habe in den vergangenen Wochen gespürt, dass mich etwas daran stört. Aber was genau dieses Gefühl auslöst, konnte ich bislang nicht greifen.
Vermutlich soll mit Beiträgen über soziale Medien besonders ein jüngeres Publikum angesprochen werden. Doch bei Berichten darüber, dass viele TikTok-Nutzer:innen neuerdings gerne das Wort „cutesy“ verwenden oder ausgefallene Hautpflege im Trend ist, stellt sich die Frage: Inwiefern sind diese Inhalte wirklich für junge Menschen relevant?
Soziale Medien als zentrale Informationsquelle
Dass große Medienunternehmen inzwischen auch soziale Medien wie TikTok und Instagram nutzen, um junge Menschen zu erreichen, ist sinnvoll und wichtig. Schließlich sind soziale Medien für junge Menschen das Informationsmedium schlechthin. Das zeigte zuletzt eine Erhebung aus dem Jahr 2022. Demnach nutzen etwa zwei Drittel der 14- bis 29-Jährigen soziale Medien täglich als Informationsquelle.
Ihre Informationen beziehen junge Menschen jedoch nicht an erster Stelle von traditionellen Medien, sondern zum Großteil von Influencer:innen und Blogger:innen. Wenn Medienunternehmen mehr junge Menschen erreichen wollen – und das sollten sie wollen – dann ist es dringend notwendig, dass sie soziale Netzwerke zur Publikation nutzen und Formate verwenden, die Jugendliche ansprechen.
Denn Menschen zu informieren, ist der zentrale Auftrag von Medien, der ihren hohen Stellenwert in unserer Gemeinschaft rechtfertigt. Wenn sie daran scheitern, einer so große und relevante Gruppe wie Jugendlichen ein adäquates Angebot zur Verfügung zu stellen, dann darf zumindest an ihrem Selbstverständnis gezweifelt werden.
20 Euro für 20 Jahre
Zu wenig Medienangebote für Jugendliche
Nur 28 Prozent der jungen Erwachsenen gaben 2023 an, ein „großes Interesse“ an Nachrichten zu haben. Bei den über 55-Jährigen waren es 71 Prozent. Das liegt auch an einem Mangel an Angeboten, die für junge Menschen geeignet sind.
Der mutmaßliche Versuch, junge Menschen besser zu erreichen, indem detailliert über jeden Trend und jedes virale Wort in sozialen Medien berichtet wird, ist jedoch wenig sinnvoll. Denn über soziale Medien erreicht man vor allem diejenigen, die die Plattformen regelmäßig nutzen – und somit vermutlich ohnehin darüber informiert sind, welche Inhalte aktuell trenden.
Stattdessen muss das Ziel sein, relevante politische, soziale und wirtschaftliche Themen so aufzubereiten, dass das Interesse bei Jugendlichen geweckt wird – auch und besonders, wenn die Inhalte komplex sind. Wenn es seriösen Medien nicht gelingt, Jugendliche ausreichend zu informieren, dann erhalten auch populistische oder gar verschwörungsideologische Kräfte die Möglichkeit, dieses Vakuum zu füllen.
Mehr Verantwortung, weniger Trendbeschreibungen
Medien tragen die Verantwortung, zur Bildung einer informierten Öffentlichkeit beizutragen. Das bedeutet vor allem auch, Menschen Geschehnisse zu vermitteln, die für ihre Lebensrealitäten wichtig sind – und zwar in einer Weise, in der das Publikum adressatengerecht angesprochen wird. Und genau dort liegt das Problem: Während nahezu alle großen Medien schier unaufhörlich über neue Trends und Hacks und Jugendwörter schreiben, fehlt es an für Jugendliche relevanten Nachrichten, die die Jugendlichen auch erreichen.
Der SWR beispielsweise veröffentlichte 2021 in seinem an Jugendliche gerichteten Format „Brust raus“ das Video: „Warum wir alle einen Hot Girl Summer haben sollten“. Darin erklärt die Sprecherin elf Minuten lang, was es mit dem TikTok-Trendbegriff „Hot Girl Summer“ auf sich hat und welche Postings dazu getätigt wurden. Eine kritische Einordnung oder Analyse des Trends erfolgt in dem Video höchstens versteckt. Selbstverständlich können Medien ein kurzlebiges, popkulturelles Phänomen beschreiben und einen Beitrag darüber publizieren.
20 Euro für 20 Jahre
Aber: Journalist:innen schulden jugendlichen Leser:innen mehr. Diese Aufgabe muss besonders der öffentlich-rechtliche Rundfunk übernehmen.
Mehr geeigneter Journalismus für junge Menschen
Plötzlich kann ich verstehen, was mich an der nicht enden wollenden Berichterstattung über Trends in sozialen Medien stört: Offenbar verwenden öffentliche und private Medien zahlreiche Ressourcen, um über irrelevante Trends zu berichten, muten Jugendlichen aber nicht zu, komplexe Sachverhalte zu verstehen. Es fehlt ein ernsthaftes und angemessenes Medienangebot für junge Menschen. Anders ist ihr geringes Interesse an Nachrichten nicht zu erklären.
Es ist zutiefst bedenklich, dass in einer Situation, in der sich immer weniger junge Menschen von Politik vertreten und von Medien angesprochen fühlen, ausgerechnet die Beiträge über „Hot Girl Walks“ oder Stanley-Cups mehr werden. TikTok-Journalismus ist kein Ersatz für ein adressatengerechtes Medienangebot.
Es braucht einen sorgfältigen Journalismus, der relevante Nachrichten für Jugendliche erklärt.
Journalistische Beiträge müssen auch für junge und sehr junge Menschen verständlich gemacht werden. Relevante und komplexe Themen müssen zielgruppengerecht aufbereitet werden. Und das wichtigste Medium dafür sind soziale Netzwerke.
Dort müssen Formate gefunden werden, die speziell Jugendliche ansprechen: Etwa mehr Beiträge in Videoform mit so wenigen Barrieren für Jugendliche geringerer Allgemeinbildung wie möglich. Denn: Jugendliche können und wollen mehr verstehen als was das Wort „demure“ bedeutet. Ihnen dabei zu helfen, ist eine wesentliche Aufgabe von Journalist:innen. Und die sollten sie ernster nehmen.
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Author: Carla Siepmann