Jüdisches Leben in Deutschland wird immer unsichtbarer, während Bedrohungen, Feindmarkierungen und Angriffe wachsen. Der Jahresrückblick der Aktionswochen gegen Antisemitismus.
Das rote Dreieck taucht immer wieder als Symbol auf, teilweise werden sogar Denkmäler für NS-Opfer damit beschmiert.
(Quelle: AAS)
Hakenkreuze und Palästina-Flaggen an Gedenkorten, Markierungen mit Davidsternen an Wohnhäusern, körperliche Angriffe auf Jüdinnen*Juden. In der Chronik antisemitischer Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung lässt sich seit dem 7. Oktober 2023 ablesen: 2024 hat eine Gewalteskalation stattgefunden, jüdisches Leben wird aus Angst vor Angriffen unsichtbar. Antisemitismuskritische und israelsolidarische Einrichtungen werden mit roten Hamas-Dreiecken markiert und mit Boykott bedroht. Orte, die an die Verbrechen der Nationalsozialist*innen und den Holocaust erinnern, werden regelmäßig angegriffen. Das Ziel ist immer das Gleiche: Einschüchterung.
Angriffe auf Erinnerungsorte
Angriffe auf Erinnerungsorte und Gedenkstätten sind in Deutschland nichts Neues: Die extreme Rechte schreckte nie davor zurück, Hakenkreuze an Orte ehemaliger Synagogen oder auf Stolpersteine zu schmieren. Alles soll zerstört werden, was als „jüdisch“ angesehen wird oder an die Opfer der Shoah erinnert. Ziel ist es, den sogenannten „Schuldkult“ zu beenden und den Holocaust zu relativieren. Mittlerweile kommen die Angriffe aber auch aus anderen politischen Milieus.
Vor allem die Debatten der letzten Jahre zur deutschen Erinnerungskultur haben dazu beigetragen, dass mittlerweile die Angriffe auf ebendiese aus verschiedenen politischen Milieus kommen. Die Zuspitzung nach dem 7. Oktober 2023 kommentiert die Journalistin Esther Schapira ein Jahr später: „Die schamlose Parole ‚Free Palestine from German guilt‘ ist nichts anderes als die linke Version der rechten Schlussstrich-Forderung.“ Dieser Umstand schlägt sich seit dem Terrorangriff in zahlreichen antisemitischen Vorfällen nieder: Kundgebungen anlässlich des Erinnerns der Opfer des Nationalsozialismus wurden mit „Free Palestine“-Rufen gestört, Mahnmale mit „Fuck Israel, Free Palestine“ oder „Gaza?“ beschmiert, auf einen Gedenkstein wurde die Palästina-Flagge gesprayt.
+++ Spotlights aus der Chronik antisemitischer Vorfälle lesen Sie hier +++
Diese multidirektionalen Angriffe erschweren das Interpretieren von Vorfällen. Woher kommen etwa Schmierereien wie „Hitler“ auf einem Shoah-Denkmal? Waren das Neonazis, die Adolf Hitler glorifizieren wollen oder wünschen Islamist*innen „den Juden“ beziehungsweise Israelis/„Zionisten“ massenhaft den Tod? Unabhängig von der politischen Überzeugung ist die Intention dieselbe: Angriffe auf die Erinnerungskultur sollen die Shoah relativieren, und dazu führen, dass Israel endlich ungehemmt „kritisiert“ werden kann. Wie die Chronik antisemitischer Vorfälle zeigt, mündet diese vermeintliche Kritik aber allzu oft in antisemitischen Ressentiments und Hass auf den jüdischen Staat. Die antizionistische Mobilisierung seit dem 7. Oktober hat eine Welle des Antisemitismus geschaffen, die dazu führt, dass sich Jüdinnen*Juden im Alltag nicht sicher fühlen können. Dazu trägt auch ein Symbol bei, das seit fast einem Jahr immer wieder auftaucht.
Im Stil der Hamas: Das rote Dreieck zur Feindmarkierung
Ein neues Symbol in diesem Jahr ist die Feindmarkierung mit rotem, auf der Spitze stehenden Dreieck. Dieses tauchte erstmals nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober auf. Die Terrororganisation nutzte das Symbol, um israelische Ziele zu markieren und zu eliminieren. Zu Beginn wurde das Dreieck vor allem in Berlin verbreitet, teilweise wurde die Markierung wahllos auf Gebäude gemalt. Anfangs hätte man vermuten können, dass das Symbol als Zeichen der Solidarität mit Palästinenser*innen zu verstehen sei, da das rote Dreieck Teil der palästinensischen Nationalflagge ist. Spätestens aber mit der Markierung eines Clubs und einer Kneipe in Berlin, die beide Vorträge zum Thema Antisemitismus veranstalten und sich öffentlich antisemitismuskritisch beziehungsweise israelsolidarisch positionieren, wird der Bezug auf die Feindmarkierung im Stile der Hamas deutlich.
Die Kneipe wurde mehrfach markiert und letztlich Ziel eines Brandanschlags. Auch in anderen Städten oder bei Protestcamps an Universitäten taucht das Symbol immer wieder auf. Die Drohung wird nochmal deutlicher, wenn das Hamas-Dreieck sich konkret gegen Personen richtet, weil es unmittelbar mit Namen versehen ist. Auch gegen antisemitismuskritische Kundgebungsteilnehmer*innen wird das Symbol gerichtet, indem Teilnehmende israelfeindlicher Demonstrationen dieses mit den Händen in Richtung der Gegendemonstration zeigen. Mittlerweile hat das Bundesinnenministerium das rote Hamas-Dreieck verboten.
Die positive Bezugnahme seitens sich als progressiv verstehender Personen auf die Hamas stellt einen neuen Tiefpunkt dar. Anstatt sich von einer radikalislamistischen Terrororganisation abzugrenzen, werden gemeinsam mit Terrorverharmloser*innen auf Demonstrationen die Hamas und andere Terrororganisationen als legitime Widerstandsgruppen glorifiziert. Gemeinsamer Nenner dieser Allianz aus Linken und Islamist*innen ist der Hass auf Israel, Zionismus und deren vermeintliche Vertreter*innen. Damit tragen vermeintlich Progressive bewusst oder unbewusst dazu bei, dass sich Jüdinnen*Juden in Deutschland und weltweit zunehmend unsicher und allein fühlen. Die Bedrohung ist mittlerweile Normalität geworden und endet nicht selten in Gewalt gegenüber Jüdinnen*Juden.
Wenn auf Worte Taten folgen
Jüdinnen*Juden müssen nach dem 7. Oktober 2023 ihren Alltag vollständig umorganisieren und ihre jüdische Identität verstecken. Sichtbar eine Davidsternkette, eine Kippa oder einen Gebetsmantel in der Öffentlichkeit zu tragen oder eine Synagoge zu besuchen, ist unsicher geworden. Auch Wohnorte von Jüdinnen*Juden wurden bereits – wie in der Zeit des Nationalsozialismus – mit Davidsternen markiert. Sichtbare Solidarität mit Israel, den Geiseln und Ermordeten vom 7. Oktober kann ebenfalls gefährlich werden: Unbekannte versuchten einer israelischen Touristin ihr „Bring them home now“- Shirt vom Leib zu reißen. Das Solidaritätssymbol der „Gelben Schleife“ führte dazu, dass eine jüdische Schülerin von zwei Männern festgehalten und bedroht wurde. An Schulen und Universitäten wurden Jüdinnen*Juden antisemitisch angefeindet, ausgeschlossen und bedrängt. Selbst bei Freizeitaktivitäten wie Eis essen oder beim Besuch eines Fußballspiels müssen Jüdinnen*Juden damit rechnen, Gewalt zu erfahren.
Anna Chernyak Segal, Geschäftsführerin des Vereins Kahal Adass Jisroel, betonte nach dem Angriff auf ihre Berliner Gemeinde, welche fatalen Konsequenzen die Sicherheitssituation für sie hat: „Das Selbstbewusstsein der Gemeinde wird dem Schutzbedürfnis geopfert.“
Was muss noch passieren?
Die angeführten Beispiele verdeutlichen, dass Antisemitismus Alltag ist. Egal ob in der Schule, der Universität, in der Kneipe oder auf der Straße: Antisemitismus ist in jedem gesellschaftlichen Bereich angekommen und kann jede Person treffen, die entweder als jüdisch erkennbar ist oder sich mit Jüdinnen*Juden und/oder Israel solidarisiert. Auch Personen und Institutionen, die sich nicht explizit zum israelisch-palästinensischen Konflikt positionieren wollen, sind zunehmendem Druck vonseiten antiisraelischer Akteur*innen ausgesetzt. Fallen etwaige Positionierungen in den Augen der Aktivist*innen zu „proisraelisch“ aus, sind Boykottaufrufe und Gewalt nicht mehr weit.
Dieser Umstand ist im Kulturbereich bereits seit einigen Jahren traurige Praxis. Die Hemmschwelle, auf Worte und Symbole der Einschüchterung Taten folgen zu lassen, ist gesunken. Zuletzt wurde dies mit den Angriffen und der Hetzjagd auf israelische Fußballfans in der Nacht auf den 7. November 2024 in Amsterdam oder auf Fußballfans des deutsch-jüdischen Fußballvereins TuS Makkabi Berlin deutlich. Der Raum für Jüdinnen*Juden und Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren, wird immer kleiner und der Alltag immer gefährlicher. Bei den angeführten Vorfällen handelt es sich lediglich um einen Bruchteil der Vorfälle, die sich im letzten Jahr in Deutschland abgespielt haben. Mehr davon sind in der Chronik antisemitischer Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung nachzulesen.
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