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Ampel-Koalition: Keine Überzeugung. Nirgends
Ein Wettlauf der Schäbigkeit ist in vollem Gange, der Orientierungsverlust der Regierung evident – nicht nur beim „Sicherheitspaket“. Wo sind die Stimmen der SPD, der Grünen und der „Bürgerrechtspartei“ FDP, wenn es um ihre politischen Überzeugungen geht? Stefan Brink liest der Ampel-Regierung die Leviten und setzt auf die Zivilgesellschaft.
Stefan Brink leitet seit 2023 das unabhängige wissenschaftliche Institut für die Digitalisierung der Arbeitswelt wida in Berlin. Zuvor war er als Richter, Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts und von 2017 bis 2022 als Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Baden-Württemberg tätig.
Warum bringt die Ampel-Regierung so wenig zustande? Warum verliert sie ausgerechnet jetzt – zwischen den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – jegliche Orientierung? Greift sie doch in ihrer gefühlten Not aus erlittenen und erwarteten Wahlergebnissen das Narrativ der CDU auf, das diese von der AfD übernommen hat: Deutschland befinde sich in einer nationalen Notlage, ausgelöst durch den unkontrollierten Zuzug von MigrantInnen, die unsere Lebensweise bedrohten.
Gegen dieses Narrativ spricht alles: die Zahlen, gerade in ihrer Entwicklung der vergangenen Jahre; die Vernunft, denn Deutschland benötigt Einwanderung zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung; der Ursprung, denn diese Erzählung entstammt rechtsextremen Kreisen, welche die Gleichwertigkeit aller Menschen in Abrede stellen; unsere Geschichte, denn die deutsche Flüchtlingspolitik war seit 1949 davon geprägt, begangenes Unrecht durch eine besonders menschenfreundliche, eigene Belastungen nicht scheuende Gewährung von Schutz auszugleichen; und der Anstand, denn es ist unanständig, wider besseres Wissen einer vereinfachenden und pauschalisierenden Sichtweise nachzugeben, welche die Lebensumstände aller Migranten und Migrantinnen – auch derer, die schon seit vielen Jahren unsere Gemeinschaft teilen und mitprägen – massiv verschlechtert.
Überzeugungen
Dieser Orientierungsverlust unserer Regierung hat Anlass und Grund. Ausgelöst wurde er durch mehrere grausame Taten von Geflüchteten und das Meinungsecho darauf in den Sozialen Medien. Das Entsetzen darüber fragt nicht, ob diese Taten geplant und schuldhaft, ob sie zu verhindern oder unvermeidlich waren, weil Menschen unberechenbar sein können. Und dieses Entsetzen ergriff auch die Ampel-Regierung, denn sie suchte anlässlich der erlebten Grausamkeiten eine Verständigung mit der Opposition über Positionen, über die man sich als Regierung nicht verständigen kann: Die pauschale Zurückweisung von Geflüchteten an unseren Außengrenzen widerspricht unserem verfassungsmäßig garantierten Asylrecht, unseren europäischen und völkerrechtlichen Pflichten, der Solidarität in der EU und der Mitmenschlichkeit. Bis vor wenigen Wochen wusste das unsere Regierung auch noch. Dass sie diese Orientierung verlor, hat – wie ich meine – einen Grund: Diese Regierung hat ihre Überzeugungen aufgegeben.
Überzeugungen sind – anders als kurzfristiger ausgerichtete Aussagen politischer Programme – feste Meinungen und Gewissheiten, die jenseits der Tagespolitik Orientierung geben und dafür sorgen, dass man auch in Pulverdampf und Schlachtenlärm etwas „zeugen“ (etymologisch ziugōn), also etwas zustande bringen kann. Zu diesen Überzeugungen zählt in einer Demokratie etwa, dass ein gesellschaftlicher Wandel möglich und notwendig ist oder auch, dass wir als Bevölkerung vernünftig und fair genug sind, Konflikte gemeinsam zu analysieren, zu bewerten und mehrheitlich getragene Lösungen zu akzeptieren.
Drei Beispiele
Was sich ein wenig abstrakt anhört, lässt sich am Beispiel eines Politikfeldes gut veranschaulichen, mit dem ich mich über Jahre, zuletzt als Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit von Baden-Württemberg, intensiv befasst habe, nämlich der Digitalisierung: Dieses Feld ist zwar deutlich weniger emotional bestellt als die Migrationspolitik, aber es ist keineswegs weniger bedeutsam, hängt doch unser künftiger Wohlstand ebenso davon ab wie die Zusammenarbeit von Staat und BürgerInnen: Welche Daten wollen wir wirtschaftlich nutzen? Welche Rolle sollen der Staat als „Informationsmagnet“ und Privatunternehmen als mögliche „Datenkraken“ einnehmen? Wie bewahren wir uns vor der Manipulation und Unterdrückung durch die Macht, die unsere persönlichen Daten in der Hand anderer ausübt? Und umgekehrt: Was dürfen BürgerInnen vom Staat wissen? Haben sie Zugang zu allen behördlichen Vorgängen und können sie sich politisch selbst informieren? In welchem Umfang darf jeder staatliches Wissen zu eigenen wirtschaftlichen Zwecken nutzen? Maßgebliche Fragestellungen im Informationszeitalter, zu denen sich unsere Regierung verhalten muss – bei denen sie aber jenen Mangel an Überzeugung an den Tag legt, der unseren Staat derzeit so orientierungslos werden lässt.
Drei Beispiele: Die Digitalisierung hat unsere Arbeitswelt massiv umgestaltet, insbesondere das Verhältnis von ArbeitgeberInnen als Weisungsgebende und Kontrollinstanzen auf der einen sowie ArbeitnehmerInnen als Weisungsgebundene und Kontrollierte auf der anderen Seite. Im traditionellen Arbeitsverhältnis kontrollierte die/der ArbeitgeberIn persönlich, sichtbar und stichprobenartig, ob erteilte Weisungen umgesetzt werden. Kontrolle erfolgt im digitalen Arbeitsverhältnis demgegenüber unpersönlich durch Software, unsichtbar hinter den Sensoren einer Überwachungskamera oder des PCs am Arbeitsplatz. Und die Kontrolle erfolgt umfassend, pauschal und lückenlos – Technik benötigt keine Verschnaufpause, und sie gewährt auch keine. Selbst vernünftige ArbeitgeberInnen stellen sich dieser modernen Überwachung am Arbeitsplatz nicht mehr entgegen, denn letztlich entscheiden die digitalen Dienstleister wie Microsoft, Zoom oder der Diensthandyanbieter, was überwacht wird – im Zweifel alles.
Aus Mitarbeitenden werden so Überwachungsobjekte – mit massiven psychischen und sozialen Folgen. Wer sich dauerhafter Überwachung ausgesetzt sieht, wer weiß, dass jeder Arbeitsschritt dokumentiert wird und jederzeit vorgehalten werden kann, der entfaltet sich am Arbeitsplatz nicht mehr frei. Der zieht den Kopf ein und leidet.
Daher hatte sich die Ampel im Koalitionsvertrag vorgenommen, diese drängende Fragestellung per Gesetz zu ordnen – mangels Überzeugung von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer guten Regulierung ist dieses Projekt aber im Pingpong zwischen Arbeits- und Innenministerium versandet. Die Ministerialen legen vereinbarungswidrig keinen Gesetzentwurf vor, weil die Arbeitgeberseite schon früh signalisierte, sie könne das Problem ganz gut auch selbst in den Griff bekommen.
So wird das Interesse an einer fairen, menschenwürdigen Behandlung der Beschäftigten am Arbeitsplatz in der Koalition nicht mehr als vordringlich behandelt. Offenbar ist beim Regieren die Überzeugung abhandengekommen, dass Digitalisierung menschenwürdig gemacht werden muss und dass man die Regelung solcher Problemstellungen nicht einseitig dem finanziell Stärkeren überlassen darf, wenn man faire Verhältnisse schaffen will.
Zweites Beispiel: die Informationsfreiheit. Hinter diesem Begriff verbirgt sich weit mehr als die Frage, was BürgerInnen von den Vorgängen in der öffentlichen Verwaltung wissen dürfen. Es geht um die Möglichkeiten, wie sich BürgerInnen in öffentlichen Angelegenheiten einmischen können, wie sie vom staatlichen Informationsvorsprung profitieren und mitreden können, wie sie die Verwaltung kontrollieren sowie der Korruption und Verschwendung von Steuergeldern Einhalt gebieten können. Dahinter steht die – vor allem in Skandinavien und den USA ausgeprägte – Überzeugung, dass die Behörden keine Eigeninteressen in den Vordergrund stellen dürfen, sondern eine dienende, gemeinwohlorientierte Funktion haben.
Deutschland, geprägt von Amtsgeheimnis und Fachbruderschaften, war spät dran mit der Informationsfreiheit, musste erst durch die Europäische Union zu mehr Behördentransparenz verdonnert werden und nahm hier – eine echte Errungenschaft der Wiedervereinigung – erst durch die Bürgerbewegungen der ostdeutschen Länder Fahrt auf. Dass gerade die Digitalisierung neue Räume für den Zugang zu Behördenwissen eröffnet, hatte auch die Ampel-Koalition erkannt und beschlossen. Und das schwerfällige Antragsverfahren der Informationsfreiheitsgesetze wollte sie dadurch überwinden, indem die öffentliche Verwaltung prinzipiell alle vorhandenen Informationen über Transparenzportale im Internet bereitstellen muss, sodass diese bürgerfreundlich, schnell und gebührenfrei zugänglich werden.
Doch auch hier fehlte die rechte Überzeugung, ein absolut naheliegendes und elementares Vorhaben umzusetzen: Die Koalition vertraute es dem Innenministerium an, das für seine Vorbehalte gegen „unqualifizierte und naseweise“ BürgerInnen bekannt ist, seine Geheimnisse lieber für sich behält und bestehende Interessenkonflikte in der Verwaltung mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken pflegt. Was Wunder, dass bis heute kein Gesetzentwurf für mehr Transparenz das Kabinett erreicht hat.
Und die Koalition? Geht den Konflikt mit einer widerspenstigen Ministerialverwaltung nicht ein und begräbt das nächste bürgerfreundliche Projekt sang- und klanglos. Ohne die Überzeugung, dass der Staat um der Menschen Willen da ist und nicht umgekehrt (was 1948 sogar in Artikel 1 unseres Grundgesetzes geschrieben werden sollte, aber schon damals irgendwie aus dem Entwurf verschwand), lässt sich das Verhältnis von Verwaltung und BürgerInnen eben nicht weiterentwickeln.
Schließlich noch ein Blick auf eine ganz junge, mit der enormen Energie eines entschlossenen Kabinetts vorangepeitschte Entwicklung: Nach der Tat von Solingen war zwar schnell klar, dass es kein neues regulatorisches Problem gibt, sondern ein Vollzugsproblem, weil die mit der Abschiebung betrauten Kommunen schlecht ausgestattet und überlastet sind. Dennoch einigte sich die Ampel unter hohem öffentlichen Druck in Windeseile auf ein „Sicherheitspaket“, das neben Gesetzesverschärfungen auch wieder neue Befugnisse für die Polizeibehörden vorsieht.
Nun soll etwa mit dem Mittel der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum islamistischem Terror Einhalt geboten werden, obwohl jede/r Vernünftige wissen kann: Gesichtserkennung erfasst ausnahmslos alle BürgerInnen und funktioniert technisch nicht hinreichend sicher. Und wenn sie es dann eines Tages doch tut, dann dürfen wir nicht zulassen, dass sie funktioniert, da sie unser gemeinsames Zusammenleben vollständig zum Negativen verändern würde: Eine Totalüberwachung wäre die Folge, die von der politischen Meinungsäußerung bis hin zur kulturellen Vielfalt jede Ausprägung von Freiheit in unserer Gesellschaft massiv einschränken würde.
Gesichtserkennung
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Was Überzeugung und was bloßes Interesse ist
Überzeugung ist das, woran Deals scheitern. In der Entscheidungssituation erkennt man, was Überzeugung ist und was bloßes Interesse. Sich auch gegen die Interessen der eigenen Klientel zu stellen und ihr etwas zuzumuten, zeichnet diese wichtigen Momente der Politik aus: Als die SPD sich für Hartz IV und die CDU für Atomausstieg und Abschaffung der Wehrpflicht entschied, war dies von Überzeugung getragen. Auch die Entscheidung der Grünen gegen den Pazifismus hatte etwas davon.
Wo ist jetzt die Stimme der „Bürgerrechtspartei“ FDP, wenn das Sicherheitspaket den Behörden Befugnisse zugesteht, die tief in unsere Freiheit einschneiden? Soll die Antwort auf ein Behördenversagen (bei der Abschiebung) wirklich in der Erweiterung behördlicher Befugnisse bestehen? Und was sagt das aus über das Verständnis der FDP von Bürgerrechten?
Wo ist die Stimme der SPD, wenn es um die Rechte der ArbeitnehmerInnen im digitalen Zeitalter geht? Will die „Arbeiterpartei“ SPD wirklich amerikanische Arbeitsverhältnisse importieren?
Und was wurde aus dem „Herzensanliegen Transparenzgesetz“ der Grünen? Soll der Unwillen der Ministerialen wirklich Grund genug dafür sein, ein Zukunftsprojekt fallenzulassen? Genügt eine knappe Legislaturperiode in der Regierung, um dem guten Verhältnis zur Bürokratie Vorrang vor den eigenen politischen Zielsetzungen einzuräumen?
Wettlauf der Schäbigkeit
Mit Blick auf die AfD muss sich die Regierung insgesamt fragen lassen: Wenn sie an die eigene Überzeugung glaubt, dass in Deutschland verfassungsfeindliche Parteien keine Macht haben dürfen – auch nicht über die Themen des politischen Diskurses -, und wenn sie überzeugt ist, dass die AfD in erheblichen Teilen verfassungswidrig agiert, warum sind dann die Anträge zu einem Verbotsverfahren in Karlsruhe noch immer nicht gestellt?
Von der fehlenden Überzeugung zum Mangel an Orientierung zum „Wettlauf der Schäbigkeit“ sind es nur kleine, folgerichtige Schritte. Frei nach Christa Wolf: Wenn wir unsere Überzeugungen fallenlassen, kommt das, was wir befürchten, bestimmt.
Wenn die Regierung ausfällt, wenn sie ohne Überzeugung agiert und sich von Extremisten auf die falschen Themen setzen lässt, muss es die Zivilgesellschaft richten. Anders als die Ampel glaubt, gibt es eine breite Mehrheit in der Bevölkerung, der es nicht an Überzeugungen mangelt: dass man den anderen, jeden anderen als gleichrangig anerkennt; dass es notwendig und möglich ist, in einer Gesellschaft zum Ausgleich der (natürlich) divergierenden Interessen zu kommen – auch in komplexen Fragen, die man nicht durch Ignorieren, sondern durch Offenheit und Annäherung bewältigt; dass Aggression in jeder Debatte schadet und jeder bereit sein muss, im Rahmen unserer Verfassung getroffene Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren.
Auch wenn die Regierung das Vertrauen in die Bevölkerung zu verlieren scheint – jenem Drittel unserer Bevölkerung, das auf Ausgrenzung und Aggression setzt, damit die Sozialen Medien verpestet und greint, dies sei nicht mehr „ihr“ Deutschland, muss die Mehrheitsgesellschaft dann eben eines sagen: Das war nie „Euer“ Deutschland – und wir werden voller Überzeugung daran arbeiten, dass es das auch nicht wird.
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Author: Gastbeitrag