Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Seit Monaten versuchen EU-Abgeordnete, Amazon über Vorwürfe zu schlechten Arbeitsbedingungen zu befragen. Schon zum dritten Mal fand das Unternehmen dafür keine Zeit. Als Konsequenz wollen die Abgeordneten nun Lobbyist:innen den Zugang zum Parlament verwehren.
Die Abgeordneten im Beschäftigungsausschuss des EU-Parlaments waren bei ihrer Sitzung am letzten Dienstag hörbar genervt. Sie wollten über die Arbeitsbedingungen bei Amazon reden, eigentlich mit eine:r Vertreter:in des Unternehmens. Das hatte aber per Brief mitgeteilt, dass der Tag leider nicht passen würde.
„Ich nehme mal an, dass es in einem Unternehmen von der Größe und mit so einer Vertretung vielleicht andere Leute gibt, die die Person hätten ersetzen können, die heute nicht konnte“, kritisierte der Vorsitzende des Ausschusses, Dragoș Pîslaru (Renew, Rumänien). „Aber das ist wieder die Situation, die wir jetzt haben.“ Es war nämlich nicht das erste Mal, dass sich die Abgeordneten von Amazon vor den Kopf gestoßen fühlten: Im Dezember sollten sie eigentlich Lagerhäuser des Unternehmens in Deutschland und Polen besichtigen, der Termin kam aber nicht zustande.
„Wie in den Gesprächen mit den Mitarbeiter:innen des Ausschusses bereits erwähnt, fielen der 18. und 20. Dezember 2023 für uns in die arbeitsreichste Zeit des Jahres und waren daher für einen Besuch nicht geeignet“, heißt es in einem Brief von Amazon an den Ausschuss. Für die Anhörung stünde kurzfristig kein geeigneter hochrangiger Vertreter zur Verfügung.
„Das Verhalten von Amazon gegenüber dem Europäischen Parlament ist schlicht inakzeptabel“, sagte dazu der deutsche EVP-Abgeordnete Dennis Radtke zu netzpolitik.org. „Dass ein Digitalkonzern nicht in der Lage sein will, einen Vertreter des Managements wenigstens online dazu zu schalten, ist eine Farce“, so der Christdemokrat. Der Ausschuss hörte stattdessen Aussagen von Expert:innen zu den Arbeitsbedingungen an.
Verfahren gegen Datenschutzverstöße
Das war zunächst Agnieszka Mroz, eine polnische Amazon-Arbeiter:in und Gewerkschaftlerin. Sie berichtete über einige der Wege, wie das Unternehmen Technologie einsetzt, um seine Arbeiter:innen strikt zu kontrollieren. So wird etwa die Leistung von Arbeiter:innen für gewisse Zeiträume gemessen und daran neue, höhere Ziele festgelegt, sagte sie: „Wenn die Arbeiterin das Ziel für einen Zeitraum nicht erfüllt, erhält sie eine negative Bewertung. Es gibt keinen Weg, dagegen Widerspruch einzulegen.“ Ein solcher Zeitraum sei eine Woche lang. Für bereits eine negative Bewertung könnte eine Arbeiterin für eine Entlassung empfohlen werden.
Amazon sei „bestrebt, der beste Arbeitgeber der Welt zu werden“, schrieb uns eine Amazon-Sprecherin auf Anfrage von netzpolitik.org. Der Konzern würde nie Mitarbeitende ohne triftigen Grund kündigen. Man würde jeden Fall einzeln betrachten.
Mroz berichtete auch von einigen Fällen, die ihre Gewerkschaft auf Basis der Datenschutz-Grundverordnung gegen Amazon vor Gericht brachte. Das Unternehmen habe etwa gegen Regeln verstoßen, laut denen automatische erstellte Profile nicht allein zu negativen Konsequenzen führen dürfen. Die Gewerkschaft gewann mehrere Fälle und Amazon zahlte Schadensersatz, setze ähnliche Mittel aber weiter ein.
Behinderung von Streiks?
Das Unternehmen würde auch die Arbeit ihrer Gewerkschaft behindern, sagte Mroz. Amazon habe im vergangenen Jahr Gewerkschaftler:innen daran gehindert, in Warenhäusern Abstimmungen für einen Streik abzuhalten. Um streiken zu können, mussten die Arbeiter:innen 10.000 Stimmen einsammeln – eine Hürde, die Mroz kritisiert. „Multinationale Unternehmen wie Amazon umgehen und behindern völlig frei die Durchsetzung dieses Rechts“, sagte sie.
„Unsere Mitarbeiter:innen haben die Wahl, ob sie einer Gewerkschaft beitreten wollen oder nicht. Diese Wahl hatten sie schon immer“, schreibt uns hier die Amazon-Sprecherin. Der Fokus des Konzerns liege weiterhin darauf, direkt mit dem Team zusammenzuarbeiten.
Für ihre Arbeit bekommen die Amazon-Arbeiter:innen in Polen laut Mroz weniger als sechs Euro brutto pro Stunde. Die Bezahlung sei in keiner Weise mit Gewerkschaften abgesprochen. „Amazon-Arbeiter:innen, besonders die in Osteuropa, die hauptsächlich den westlichen und besonders deutschen Markt bedienen, hätten meiner Meinung nach mehr verdient“, sagte Mroz. „Sie verdienen einen sicheren Job, ohne Angst, ihn wegen irgendwelcher Vorwände zu verlieren, und sie verdienen außerdem einen angemessenen Lohn.“
In Deutschland weiter kein Tarifvertrag
Corinna Groß, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi, berichtete von der Situation in Deutschland. Hier gebe es seit zehn Jahren regelmäßig Streiks, die besonders einen Flächentarifvertrag und einen Tarifvertrag zu gesunder Arbeit fordern. Die Arbeitsbedingungen wurden in dieser Zeit deutlich besser, erkannte sie an, auch die Einstiegsgehälter seien gleich hoch wie im Tarifvertrag gefordert. Ohne Tarifvertrag sei das aber alles willkürlich, sagte Groß: „Das liegt in ihrem Ermessen, ob sie Erhöhungen geben oder eben nicht.“ Außerdem würden immer noch massive psychische Belastung ausgeübt und Datenschutzvorschriften weiterhin nicht eingehalten.
Amazon habe auch auf die Forderung nach besserer betrieblicher Vertretung reagiert, indem es an neuen Standorten sehr schnell Betriebsratswahlen durchführe – so schnell, dass die Gewerkschaften an den Standorten noch nicht vertreten sind. Dadurch hätte Verdi in den Betriebsräten dann keine Mehrheit. „Diese Betriebsräte zeichnen sich eher dadurch aus, dass sie das Betriebsverfassungsgesetz nicht voll ausschöpfen und dementsprechend auch oft nah an der Betriebsleitung sind“, sagte Groß.
Die Amazon-Sprecherin hält diese Aussage für irreführend, wie sie auf unsere Anfrage erklärt. Es gebe in Deutschland bei Amazon seit über 20 Jahren Betriebsräte. Der Prozess für die Gründung eines Betriebsrats sei in Deutschland rechtlich eindeutig geregelt. „Den Mitarbeiter:innen obliegt es selbstverständlich selbst, wie und in welcher Form sie sich im Zuge dessen engagieren.“
Der dritte Korb für das Parlament?
Nach den Statements der Gewerkschaftler:innen berieten die Abgeordneten über mögliche Konsequenzen. „Nur mit Reden ist es wahrscheinlich nicht mehr getan“, fasste der deutsche EVP-Abgeordnete Helmut Geuking die Mehrheitsmeinung zusammen. „Ich denke, das Parlament sollte über ein Verbot für Amazon-Lobbyist:innen reden“, forderte Agnes Jongerius (S&D, Niederlande). Dem stimmten fraktionsübergreifend Abgeordnete zu.
Die französische Linke-Abgeordnete Leïla Chaibi verwies auf eine Strafe, die die französische Datenschutzbehörde am Dienstagmorgen verhängt hatte. Amazon muss 32 Millionen Euro zahlen, weil es seine Mitarbeitenden im Land übermäßig überwachte. „Es ist das dritte Mal, dass Amazon uns einen Korb gibt. Und das heißt: Amazon missachtet die Abgeordneten dieses Hauses“, sagte Chaibi. „Wir müssen jetzt klar Nägel mit Köpfen machen und sagen, Amazon-Lobbyist:innen dürfen hier nicht mehr rein ins Haus.“ Die Abgeordneten wollen bald einen Brief mit ihrer Forderung an Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (EVP, Malta) schicken.
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Author: Maximilian Henning