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Afghanistan: USA hinterließen militärische Ausrüstung, aber nicht im Wert von 85 Milliarden Dollar
Im TV-Duell mit Kamala Harris wiederholte Donald Trump eine Behauptung, die seit dem US-Abzug 2021 aus Afghanistan durchs Netz geistert: Die USA hätten militärische Ausrüstung im Wert von 85 Milliarden Dollar zurückgelassen. Laut US-Verteidigungsministerium waren es mehrere Milliarden, aber bei weitem nicht so viel wie behauptet.
Die USA hätten militärische Ausrüstung im Wert von 80 oder 85 Milliarden US-Dollar in Afghanistan zurückgelassen.
05.09.2024
Falsch
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Falsch. Laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums hinterließen die USA militärische Ausrüstung im Wert von sieben Milliarden US-Dollar. Insgesamt wurden laut der Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans über 20 Jahre um die 89 Milliarden US-Dollar für „Sicherheit“ ausgegeben – nur ein Teil davon für militärische Ausrüstung.
Mal heißt es 80 Milliarden, mal 85 Milliarden US-Dollar. So viel soll die militärische Ausrüstung wert sein, die die USA bei ihrem Abzug aus Afghanistan zurückgelassen haben. Die Zahl geistert seit Jahren durchs Netz, Donald Trump wiederholte sie erst kürzlich während des TV-Duells mit Kamala Harris: „Wir hätten keine nagelneue, wunderschöne militärische Ausrüstung im Wert von 85 Milliarden US-Dollar zurückgelassen“, behauptete er (ab 1:20:05). Dieselbe Zahl verbreitet sich aktuell auf Facebook mit einem Bild, das das Arsenal der Taliban zeigen soll.
Im August 2021 verließen US-Truppen nach fast 20 Jahren Afghanistan. In den Einsatz flossen Milliarden von US-Dollar, auch in Ausrüstung – doch so viel, wie behauptet, wurde nicht zurückgelassen.
US-Verteidigungsministerium geht von Ausrüstung im Wert von sieben Milliarden US-Dollar aus
Am 16. August 2022 veröffentlichte das Büro des Generalinspekteurs des US-Verteidigungsministeriums eine Pressemitteilung. Darin heißt es: „Nach Schätzungen des Verteidigungsministeriums befand sich mit US-Mitteln finanzierte Ausrüstung im Wert von 7,12 Milliarden US-Dollar im Inventar der ehemaligen afghanischen Regierung, als diese zusammenbrach.“ Darüber berichteten mehrere US-Medien, darunter CNN, die den Bericht des US-Verteidigungsministeriums mit den Daten einsehen konnten. Zu den in Afghanistan zurückgeblieben Gegenständen gehörten demnach Flugzeuge, Munition, Militärfahrzeuge, Waffen und Kommunikationsausrüstung.
Weitere Daten finden sich in einem Bericht der Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans (Sigar). Sigar wurde vom US-Kongress ins Leben gerufen, um eine „unabhängige und objektive Aufsicht“ über die Projekte in Afghanistan zu gewährleisten. Laut einem Bericht von Februar 2023 haben die USA von 2002 bis zum Abzug im August 2021 insgesamt 18,6 Milliarden Dollar für die Bewaffnung und Ausrüstung afghanischer Streitkräfte ausgegeben.
Die Zahl liegt also auch über den gesamten Zeitraum betrachtet weitaus unter den behaupteten 80 oder 85 Milliarden US-Dollar.
Laut Sigar-Bericht wurden in 20 Jahren rund 89 Milliarden US-Dollar für „Sicherheit“ investiert – dazu zählen auch Gehälter
Ursprung des Missverständnisses ist mutmaßlich ein Sigar-Bericht von Juli 2021. Kurz vor dem Abzug der US-Truppen veröffentlichte Sigar seinen vierteljährlichen Bericht mit aktuellen Daten bis Juni 2021. Seit dem Fiskaljahr 2002 hatte die US-Regierung demnach um die 145 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau und damit verbundene Aktivitäten in Afghanistan bereitgestellt – 88,6 Milliarden flossen dabei in „Sicherheit“ und davon ging der meiste Teil mit 83 Milliarden US-Dollar an den „Afghanistan Security Forces Fund“, also Gelder für afghanischen Streitkräfte, inklusive Polizei und Armee.
Laut dem aktuellen vierteljährlichen Sigar-Bericht von Juni 2024 sind die endgültigen Zahlen für den Zeitraum etwas angepasst. Demnach haben die USA bis zum Abzug 88,8 Milliarden für „Sicherheit“ ausgegeben, davon flossen 80,6 Milliarden in den Security Fund.
Das Geld ging nicht nur in militärische Ausrüstung, sondern deckte auch Trainings, Benzin, Transport und Gehälter der Sicherheitskräfte ab. Ein Blick auf einen Budget-Report des US-Verteidigungsministeriums von Mai 2021 zeigt, dass zum Beispiel in den Fiskaljahren 2020 und 2021 jeweils um die 380 Millionen US-Dollar an Gehältern für die Armee, Polizei, Spezialkräfte und Luftwaffe gezahlt wurden.
Virales Bild zeigt teils veraltete Daten zu US-Ausrüstung in Afghanistan
Nicht nur die Zahlen aus dem Sigar-Bericht sorgen in diesem Zusammenhang für Missverständnisse. Im Zuge der Behauptung um die 80 oder 85 Milliarden US-Dollar taucht seit Ende August 2021 immer wieder eine Grafik über das angeblich neue Waffenarsenal der Taliban auf. Woher die Grafik stammt, bleibt unklar. Die britische Zeitung The Sunday Times veröffentlichte sie aber in einem Artikel vom 29. August 2021, der die Machtübernahme durch die Taliban thematisierte. Mittlerweile ist sie nicht mehr im Artikel zu finden.
In der Grafik werden Zahlen verschiedener Militärfahrzeuge und Waffen aufgeführt, die nach Abzug des US-Militärs angeblich zum Arsenal der Taliban gehören. Die Zahlen geben aber veraltete Daten wieder. Die 22.174 Humvees (Gelände-Fahrzeuge), 162.043 Radiogeräte, 16.035 Nachtsichtgeräte, 64.363 Maschinengewehre und 126.295 Pistolen finden sich zum Beispiel in einem Bericht des US-Accountability Office (US-Rechnungshof) von 2017 und beziehen sich auf dem afghanischen Militär zur Verfügung gestellte Ausrüstung zwischen den Fiskaljahren 2004 und 2016. Daraus lassen sich keine Angaben ableiten, wie viel Ausrüstung nach Abzug des US-Militärs in Afghanistan zurückblieb und in die Hände der Taliban geriet.
Wie viel funktionsfähiges Material die Taliban beschlagnahmten, bleibt unklar
Dass die Zahlen in der Grafik, zum Beispiel auch die 358.530 Sturmgewehre, nicht aktuell sind, lässt sich im Sigar-Bericht von Februar 2023 nachprüfen. Darin findet sich eine Auflistung der zwischen 2005 und 2021 bereitgestellten sowie in Afghanistan zurückgelassenen Ausrüstung nach Angaben des US-Verteidigungsministerium. Insgesamt wurden demnach um die 316.000 Waffen hinterlassen („weapons, remaining“) – nicht alles davon Gewehre. Ebenfalls zurückgelassen wurden um die 43.000 Bodenfahrzeuge („ground vehicles“) – darunter, wie CNN berichtet, 12.000 Humvees – also auch hier weniger als die in der Grafik angegebenen knapp 22.000 Humvees.
In dem Sigar-Bericht wird aber ersichtlich, dass nahezu die gesamte Kommunikationsausrüstung sowie spezielle Ausrüstung wie „Nachtsicht-, Überwachungs-, Biometrie- und Ortungsgeräte“ in Afghanistan zurückgelassen worden sei.
Fakt ist: Die Taliban beschlagnahmten nach dem US-Rückzug große Teile der Ausrüstung. Ob all diese Ausrüstung von den Taliban auch genutzt werden kann und konnte, bleibt jedoch unklar. Der Betriebszustand der verbleibenden Fahrzeuge in Afghanistan sei unbekannt, zitiert CNN etwa aus dem Bericht des US-Verteidigungsministerium, ebenso ob die Taliban über das technische Wissen verfügten, die Geräte zu bedienen. Viele der Gegenstände, wie etwa die Helikopter, erforderten demnach eine spezielle Wartung, erklärten Sicherheitsexperten auch gegenüber dem US-Medium Politifact.
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Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Mitteilung des Büro des Generalinspekteurs des US-Verteidigungsministeriums vom 16. August 2022: Link (Englisch, archiviert)
- Vierteljährlicher Bericht der Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans, 30. Juni 2021: Link (Englisch, archiviert)
- Bericht der Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans, Februar 2023: Link (Englisch, archiviert)
- Bericht von CNN, vom 28. August 2022, „US left behind $7 billion of military equipment in Afghanistan after 2021 withdrawal, Pentagon report says“: Link (Englisch)
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Author: Sophie Timmermann